20.05.2020
Nebenklagevertreter und Angehörige kritisieren die schriftliche Urteilsbegründung im NSU-Prozess

»Wir haben gewonnen«

Das Oberlandesgericht München hat fast zwei Jahre nach dem Ende des Verfahrens die schriftliche Urteilsbegründung im NSU-Prozess vorgelegt. Viele Angehörige der Opfer sind enttäuscht, das Urteil und seine Begründung kommen einem Sieg für das Neonazimilieu gleich.

In seiner Rede zum 75. Jahrestag der Befreiung vom Nationalsozialismus sagte Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier (SPD) in Berlin: »Wir denken an diesem 8. Mai auch an die Opfer von Hanau, von Halle und von Kassel. Sie sind durch Corona nicht vergessen!« So löblich der Verweis auf die nazistische Gewalt der Gegenwart sein mag, unerwähnt blieben in der Rede neben anderen die Opfer des Nationalsozialistischen Untergrunds (NSU) – obwohl erst kurz zuvor, am 21. April, das Oberlandesgericht (OLG) München nach fast zweijähriger Bearbeitungszeit das schriftliche Urteil im NSU-Prozess vorgelegt hatte. Der 6. Strafsenat, der am 11. Juli 2018 das Urteil mündlich verkündet hatte, hat somit erst einen Tag vor Ablauf der Frist von 93 Wochen nach Urteilsverkündung die Begründung zu den Akten gegeben. Hätte er die Frist nicht eingehalten, hätte der Prozess neu angesetzt werden müssen.

Die Urteilsbegründung ist wie schon das mündlich vorgetragene Urteil voller Leerstellen und Auslassungen, sie enthält zahlreiche Textbausteine und Floskeln.

Das Ausreizen der Frist hatte bereits vorher für Kritik von Beobachtern und Prozessbeteiligten gesorgt. So sagte Mehmet Daimagüler, ein Anwalt von Nebenklägern, dem Redaktionsnetzwerk Deutschland, er verstehe zwar das Anliegen, das Urteil revisionssicher zu machen. »Die lange Zeit zwischen Urteilsverkündung und Urteilsbegründung hat jedoch eine sedierende Wirkung. Das Interesse der Öffentlichkeit am NSU-Komplex ist noch mehr zurückgegangen.« Nun haben Prozessbeteiligte, die in Revision gehen wollen, nur ­einen Monat Zeit für ihre Revisionsbegründung. Diese geht zum Bundes­gerichtshof, der das Urteil aber nur auf Rechtsfehler überprüft, also Fehler im Verfahrensablauf oder bei der Rechtsanwendung. Es wird nicht neu verhandelt. Dennoch kann es noch etwa zwei Jahre dauern, bis das Urteil voll rechtskräftig ist.

Da die Angeklagten schuldig gesprochen wurden, kann die Vertretung der Nebenklage, die die Opfer des NSU und Angehörige vertritt, keine Revision einlegen. Einzig beim Teilfreispruch für André Eminger wegen Beihilfe zum versuchten Mord beim Anschlag auf ein Geschäft in der Kölner Probsteigasse wäre die Nebenklägerin revisions­berechtigt, sie verzichtete aber auf diesen Schritt.

Die Hauptangeklagte Beate Zschäpe wurde als Mittäterin zu lebenslanger Haftstrafe verurteilt, eine besondere Schwere der Schuld wurde festgestellt. Sie habe trotz und gerade wegen ihrer Abwesenheit an den Tatorten »unverzicht­bare Bedingungen« für die Begehung der Taten ge­liefert, indem sie für Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt eine sichere Rückzugsmöglichkeit geschaffen habe, und sei an den Planungen stets beteiligt gewesen. Zschäpes Anwälte zweifeln insbesondere diese Begründung der Mittä­terschaft an.

Alle vier Mitangeklagten erhielten ebenfalls Haft- oder Jugendstrafen ­wegen Beihilfe oder Unterstützung einer terroristischen Vereinigung. Ralf Wohlleben, Holger Gerlach und André Eminger gehen ebenfalls in Revision. Nur Carsten S. hat seine Strafe bereits angetreten. Er wurde trotz weitreichender Aussage, Schuldeingeständnis und Zusammenarbeit mit dem Gericht zu drei Jahren Jugendstrafe verurteilt und steht unter Zeugenschutz. Ebenfalls drei Jahre Haft erhielt Gerlach. Besonders irritiert hatten schon 2018 die unerwartet geringen Haftstrafen für Wohlleben (zehn statt zwölf Jahre) und Eminger (zweieinhalb statt zwölf); beide warten zurzeit in Freiheit auf ­ihren Haftantritt. Sie werden im Nazimilieu als Helden gefeiert.

Das Gericht hatte Eminger während des Verfahrens in Untersuchungshaft genommen, ihn dann aber vom Vorwurf der Beihilfe zum versuchten Mord freigesprochen. In der Urteilsbegründung, die der Jungle World vorliegt, verwundern besonders die Passagen zur Begründung seines Teilfreispruchs. Eminger habe bis 2007 nur eine »lockere persönliche Beziehung« zu den drei NSU-Terroristen gehabt, sei ihnen zwar ideologisch verbunden gewesen, habe »jedoch keine tiefgehenden Einblicke in die Lebensumstände der drei untergetauchten Personen« gehabt. Auch sei ihm lediglich eine »verbal geäußerte Ausländerfeindlichkeit der drei Personen geläufig« gewesen: »Der Schluss, von diesen Äußerungen auf deren Bereitschaft, ihre Ausländerfeindlichkeit in die Tat umzusetzen und Menschen aus ausländerfeindlich-rassistischen Motiven zu töten«, habe ihm daher fern gelegen.

Eminger ist ein bekennender, langjähriger Neonazi und trägt ein großes Tattoo mit den Worten »Die Jew Die« (»Stirb Jude stirb«) auf dem Bauch. »Diese Ignoranz für den Zusammenhang von Einstellung und Verhalten im Rechtsextremismus ist ein wiederkehrendes Motiv seiner Bagatellisierung«, sagte der Rechtsextremismusforscher Samuel Salzborn der Jungle World. Die Bundesanwaltschaft hat hier Revision angekündigt, sie hält – wie viele Nebenkläger – Eminger als Mitwisser für deutlich stärker in die Taten involviert.

Viel ist darüber berichtet worden, dass die Urteilsbegründung 3 025 Seiten umfasst und die gesammelten An­träge, Verfügungen und Protokolle zusätzlich 44 Aktenordner füllen, was als Zeichen für eine ausführliche und gründliche Befassung gewertet wurde. Doch die Urteilsbegründung ist wie schon 2018 das mündlich vorgetragene Urteil voller Leerstellen und Auslas­sungen, sie enthält unzählige Textbausteine und Floskeln.

In einer Presseerklärung vom 30. April äußerten sich 19 Anwältinnen und Anwälte der Nebenklage kritisch. Der Senat sei offenbar »seiner Aufgabe der Wahrheitsfindung und der Wiederherstellung des Rechtsfriedens nicht gewachsen« gewesen, die Urteilsbegründung »formelhaft, ahistorisch und kalt«, gerade gegenüber den Nebenklägern. Auf deren Perspektive nehme die Urteilsbegründung kein Bezug, die Richter hätten gezeigt, dass sie »kein Interesse an einer Aufklärung, noch nicht einmal im Rahmen der Anklage hatten und den Betroffenen mit häss­licher Gleichgültigkeit gegenüberstehen«. Die Opfer des NSU würden nicht als Individuen mit Alter, Beruf und ­Familie aufgeführt.

Nach Ansicht der Frankfurter Anwältin Seda Başay-Yıldız, die die Familie des ersten NSU-Mordopfers Enver Şimşek als Nebenklägerin vertritt, sind »die Passagen zu den Opfern wie im Copy-and-paste-Verfahren aneinandergereiht worden, die Ermordeten werden zu austauschbaren Statisten«, sagte sie dem Portal hessenschau.de. »Das Urteil hätte den Mordopfern des NSU ein Gesicht geben, die Lücke beschreiben können, die ihre Ermordung gerissen hat«, heißt es in dem Statement der Nebenklage. Die Folgen der Taten für die Angehörigen und Überlebenden fänden im Urteil keine Erwähnung. Dabei wären sie laut Başay-Yıldız zwingend zu berücksichtigen: »Paragraph 46 Strafgesetzbuch schreibt vor, dass auch die Auswirkungen auf die Leben der Geschädigten gewürdigt und bei der Feststellung des Strafmaßes herangezogen werden müssen.«

Die Ergebnisse der fünfjährigen Beweisaufnahme würden, so die Anwälte der Nebenklage, »bis zur Unkenntlichkeit verkürzt oder dreist verschwiegen«, der NSU werde als Trio ange­sehen, Verfassungsschutzämter, der dubiose hessische Verfassungsschutzmitarbeiter Andreas Temme, die ­polizeilichen Ermittlungen und rechtsextreme Helfernetzwerke wie »Blood & Honour« würden nicht einmal erwähnt. Die Verfasser der Presseerklärung kommen zu der Einschätzung: »Es ist ein Mahnmal des Versagens des Rechtsstaats, der die Angehörigen der NSU-Mordopfer über Jahre erst kriminalisierte und nun endgültig im Stich gelassen hat.«

Antonia von der Behrens, eine weitere Anwältin der Nebenklage, sagte der Jungle World: »In dem Urteil findet sich so gut wie nichts von dem, was die Nebenklage durch Beweisanträge, denen das Gericht nachgegangen ist, in das Verfahren eingebracht hat. Das Eingehen auf Beweisanträge der Nebenklage durch das Gericht erscheint in der Rückschau nur als ein prozessual notwendiges Zugeständnis.« Die Aufklärung müsse deswegen weitergehen.

Elif Kubaşık, die Witwe des 2006 in Dortmund ermordeten Mehmet Ku­başık, wandte sich Ende April mit einen offenen Brief an das Münchner Gericht: »Warum haben Sie nicht aufgeschrieben, dass man nicht die ganze Wahrheit finden kann, wenn Akten zerstört werden, wenn Zeugen lügen. Die Gerechtigkeit, die ich uns gegenüber erhofft hatte, hat das Urteil nicht gebracht.« Der Tag der Urteilsverkündung habe sich bei ihr eingebrannt: »Ich konnte nicht vergessen, mit welcher Unbarmherzigkeit Sie versucht haben, İsmail Yozgat, der seinen Sohn ver­loren hat, während des Urteils zum Schweigen zu bringen. Dabei klagte er nur aus Schmerz.« Der Vorsitzende Richter Manfred Götzl reagierte damals wütend auf den Vater des in Kassel ­ermordeten Halit Yozgat, der bei der Schilderung der Mordumstände seines Sohnes aufgesprungen war und das ­islamische Glaubensbekenntnis gerufen hatte. Götzl drohte damit, ihn des Saales zu verweisen. Deutlich lockerer reagierte Götzl, als eine Gruppe Neo­nazis auf der Besuchertribüne bei Verkündung der Strafen für Wohlleben und Eminger jubelte und applaudierte. Er bat lediglich um Ruhe. Aus dieser Neonazigruppe heraus wurde eine Prozessbeobachterin mit den Worten ­angepöbelt: »Was willst du, wir haben gewonnen!«

Bayerns Ministerpräsident Markus Söder (CSU) lobte 2018 das Urteil als »Signal ins Land hinein gegenüber all solchen Gruppen, die so was vielleicht vorhaben«. Es sei »ein Signal in die Weltgemeinschaft hinaus, dass bei uns alle, die sich so benehmen, hart bestraft werden.« Was von der abschreckenden Wirkung des NSU-Urteils für die rechtsextreme Szene zu halten ist, das zeigen die vergangenen Mo­nate und vor allem die Opfer von Hanau, Halle und Kassel.