Ein Gespräch mit Doug Henwood über die politischen und ökonomischen Folgen der Coronakrise in den USA

»Wir stehen erst am Anfang dieser Krise«

Doug Henwood ist Wirtschaftsanalyst, Autor und Finanzhändler und Mitherausgeber der linken Zeitschrift »The Nation«. Er veröffentlicht den Newsletter »Left Business Observer«, der Wirtschaft und Politik aus einer linken Perspektive analysiert. Mit Phillipa Dunne ist er Miteigentümer und Mitherausgeber von »The Liscio Report«, einem Newsletter für makroökonomische Analyse.

Wie lebt es sich momentan in New York City?


Die meisten von uns, die keine notwendige Arbeit machen müssen, sind zu Hause. Niemand scheint zu wissen, wie wir von der Phase des lockdown zur Normalität zurückkehren können, was immer das für eine Normalität sein wird. Es ist beängstigend.


Wie würden Sie die bisherigen Reaktionen der US-Regierung auf die Pandemie charakterisieren?


Zu wenig, zu spät. US-Präsident Donald Trump sagt, er wolle keine Kapazitäten für Massentests aufbauen lassen. Aber wie kommt man zu irgendeiner Normalität zurück ohne einen funktionierenden Mechanismus aus Tests, Fallrückverfolgung und Quarantäne? Das ökonomische Rettungspaket ist umfangreich, aber es zielt vor allem auf die Wirtschaft. Probleme mit den Lieferketten in der Nahrungs- und sonstigen Grundversorgung gibt es noch nicht, aber es wird in den kommenden Wochen vermutlich schwierig. Smithfield Foods, eine der größten Schlachtereien des Landes, wurde auf unbestimmte Zeit geschlossen, nachdem fast 300 Mitarbeiter positiv auf Covid-19 getestet wurden; der CEO warnte, die Pandemie gefährde die Fleischversorgung des Landes.


Wie steht es um Handlungsmacht der Bevölkerung?


Viele Menschen sind sehr verunsichert. Sie wissen nicht, ob sie krank werden oder ihre Rechnungen bezahlen können. Wegen der Restriktionen kann sich Protest schwer artikulieren. Aber ein Grund, warum in New York die Schulen geschlossen wurden, war, dass Eltern und Lehrkräfte ankündigten, ihre Kinder nicht mehr hinzuschicken beziehungsweise sie nicht mehr zu unterrichten. Trotz der Schwäche der Gewerkschaften hierzulande legten Beschäftigte bei Amazon die Arbeit wegen der unsicheren Arbeitsbedingungen nieder. Auch bei Unternehmen wie dem Lieferdienst Instacart oder der Biosupermarktkette Wholefoods, die Amazon gehört, gab es Streiks. Etwa ein Drittel der Mieterinnen und Mieter haben im April ihre Miete nicht bezahlt, teils organisiert, teils spontan. Das ist schon sehr unüblich hierzulande.

»Manche glauben, der Crash könne so schnell rückgängig gemacht werden, wie er begonnen hat. Ich habe da Zweifel.«


Was passiert gerade in der US-Wirtschaft?


Immens viele Menschen haben ihre Arbeit verloren. Wie hoch die Arbeitslosigkeit im April ist, werden wir nicht vor Mai erfahren, aber zwischen zwölf und 15 Millionen haben in den vergangenen Wochen das neu eingeführte Arbeitslosengeld beantragt. Vermutlich ist die Arbeitslosenquote von unter vier Prozent im Februar auf zehn bis 15 Prozent angestiegen – und sie wird weiter steigen, man rechnet mit bis zu 25 Prozent. Nach dem Börsencrash von 1929 dauerte es etwa vier Jahre, bis die Arbeitslosigkeit von drei auf 25 Prozent anstieg. Gerade komprimiert sich eine Krise von ähnlichem Ausmaß auf wenige Monate. Das ist atemberaubend. Manche glauben, der Crash könne so schnell rückgängig gemacht werden, wie er begonnen hat. Ich habe da Zweifel.


Was spricht denn dagegen?


Viele kleine Unternehmen wie Restaurants oder Einzelhändler und selbst viele größere Konzerne können nicht mehrere Monate ohne Einnahmen überleben. Zahlreiche Großunternehmen in den USA haben in den vergangenen fünf bis sieben Jahren hohe Schulden gemacht, die sie jetzt nicht bedienen können. Ihre Kreditgeber bekommen Probleme, wenn diese Schulden nicht bezahlt werden. Privatpersonen und Unternehmen können Mieten nicht bezahlen. Die Vermieter werden die Hypotheken bei den Banken nicht bezahlen können. Wir stehen erst am Anfang dieser Krise. Der Schaden wird immens und nicht so leicht zu reparieren sein.


Bedeutet das nicht, dass die Rettungspakete das richtige Mittel sind?


Was mich wirklich stört, ist, dass die Federal Reserve Bank (die Zentralbank der USA, Anm. d. Red.) und das US-Finanzministerium enorme öffentliche Mittel aufbringen, um den Status quo vor der Krise wiederherzustellen. Das ist irre. Die Öffentlichkeit, die diese gewaltigen Anstrengungen mit ihren Steuern finanziert, sollte dafür auch etwas bekommen. Damit meine ich zum Beispiel eine Neuorganisation des Finanzsystems. Wir bräuchten eines, das nicht in hohem Maße spekulativ ist, sondern Grundbedürfnissen dient und Sparkonten sowie Kredite bereitstellt. Kein Mensch braucht Hedgefonds oder Private Equity Funds. Warum nicht das Bankensystem verstaatlichen?


Da könnte man sicher noch einiges Sinnvolles fordern.


Die Krise könnte eine Chance sein – ob diese auch genutzt wird, steht auf einem anderen Blatt. Es wäre der perfekte Zeitpunkt, um eine einheitliche staatliche Krankenversicherung einzuführen. Zahlreiche Menschen haben Krankenversicherungen, die an ihre Anstellung gebunden sind, und verlieren nun beide. Schon vorher hatten extrem viele Menschen keine oder nur eine sehr schlechte Krankenversicherung. Es gab einige frühe Covid-19-Patienten, die für ihre Behandlung Rechnungen von 35 000 Dollar erhielten. Die wenigsten haben so viel gespart. Die meisten verschulden sich und leiden darunter für viele Jahre.


Ist es nicht ironisch, dass Bernie Sanders in dem Moment seine Niederlage bei den Vorwahlen der Demokratischen Partei eingestehen musste, als seine Themen – Gesundheit und die Situation der arbeitenden Bevölkerung – so relevant wie nie zuvor wurden?


In der Zeitschrift New Yorker, die so etwas wie die Bibel der Liberalen in diesem Land ist, stand vor ein paar Tagen die Schlagzeile: »Die Realität hat Bernie Sanders recht gegeben.« Wir bräuchten ein ganz anderes Gesundheitssystem, das nicht auf Profitmaximierung basiert. Wir haben elitäre Privatkliniken, die für reiche Patienten da sind, während Krankenhäuser im ländlichen Raum und in armen Stadtteilen dichtmachen. Gerade die Armen leiden häufig an Vorerkrankungen, weshalb die Pandemie in der afroamerikanischen Bevölkerung und im Süden besonders verheerend ist. Es gäbe jetzt eine Chance, Dinge anders zu organisieren, wo sie dysfunktional sind, so wie im US-Energiesektor.


Wieso betrifft die Pandemie den Energiesektor?


Die Fracking-Industrie ist wegen des drastisch gefallenen Ölpreises in einer Krise. Fracking lohnt sich nur bei hohen Ölpreisen, weil die Förderkosten enorm sind. Trump will diesen Industriezweig retten. Einer seiner besten Freunde, Harold Hamm, ist stark im Fracking-Geschäft engagiert. Es wäre der perfekte Moment, um eine aus umweltpolitischer Sicht höchst fragwürdige und destruktive Branche aufzugeben. Wir müssen weg von fossiler Energie. Die Luftqualität in Los Angeles und anderen Städten hat sich enorm verbessert, weil weniger Autos unterwegs sind. Insgesamt gäbe eine große Chance, diese Gesellschaft humaner zu gestalten.


Wirtschaftlich ging es den USA vor der Krise so gut wie nie zuvor, glaubte man den Worten des Präsidenten.


Das ist Humbug. Die US-Wirtschaft hat sich von der Rezession nach 2007 nie wirklich erholt. Diese und die schwache Erholung haben zu einem permanenten Einkommensverlust von mehreren Tausend Dollar bei Privathaushalten geführt. Nun wird es noch schlimmer, die Abgründe zwischen den Klassen, die schon lange da waren, sind offensichtlicher denn je.


Warum trifft diese Krise die USA so hart?


Jahrzehnte neoliberaler Wirtschaftspolitik haben das, was es an staatlicher Wohlfahrt und Gesundheitsvorsorge einmal gab, vor allem auf kommunaler und bundesstaatlicher Ebene völlig ausgehungert. Deshalb fehlt es an viel mehr als nur Beatmungsgeräten und Kapazitäten auf den Intensivstationen. Jahrzehntelang wurde dieses Land regiert, als sei die Klimakrise ein Mythos. Diese begünstigt aber Naturkatastrophen und schwer oder gar nicht behandelbaren Krankheiten. Die Leugnung dieser Probleme und die Weigerung, sich mit den destruktiven Auswirkungen des Kapitalismus auseinanderzusetzen, sind der Grund, warum die USA besonders schlecht für kommende Herausforderungen gewappnet sind.


Nach anfänglicher Leugnung der Gefahren von Covid-19 hat die Regierung ihren Kurs geändert. Wie ist das zu bewerten?


Das Land wird von sehr inkompetenten Leuten mit einer sehr engen nationalistischen Perspektive regiert. Es sieht aus, als wolle Trump die Wahl mit einer Kampagne gegen China gewinnen. Das befeuert übelste antichinesische und antiasiatische Stimmungen. Der Präsident benutzt neuerdings eine sehr militaristische Sprache im Zusammenhang mit der Pandemie. Wir befänden uns in einem »Krieg mit dem Virus«, den er oft als »das chinesische Virus« bezeichnet. Vor ein paar Wochen hat das US-Militär vor der chinesischen Küste Raketen getestet, um den Chinesen zu zeigen, wo der Hammer hängt. Es ist verrückt, die US-Regierung müsste gerade jetzt mit China kooperieren.


In den USA ist Trump doch gegenwärtig eher populärer als zuvor.


Es kommt darauf an, welche Umfragen man liest. In den meisten liegt Joe Biden weit vor ihm. Aber bis zur Wahl im November wird noch viel passieren.
 

Doug Henwood
Doug Henwood  (Foto: privat)