Gilles Kepels neues Buch »Chaos«

Appell Kepel

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Weder die eine noch die andere These kann wirklich überzeugen. Die Absichten, die Kepel unterstellt, erscheinen oft überinterpretiert. Man weiß zwar, dass al-Qaida der Numerologie große Bedeutung beimisst: 9/11 sei nicht nur die Notrufnummer in den USA, sondern stehe, wenn man die Zahlen umdrehe, auch, wie Kepel darlegt, für den Fall der Berliner Mauer und damit »für den Zusammenbruch des ehemaligen kommunistischen Systems«. Ob aber Khomeini tatsächlich die Fatwa gegen Salman Rushdi absichtsvoll einen Tag vor dem Abzug der letzten sowjetischen Soldaten aus Afghanistan verfasste, damit die westlichen Medien über Ersteres berichten und er so dem Westen den Sieg vermasseln konnte?

Die verheerende Entwicklung in der Region begann Kepel zufolge im Jahr 1973 oder eigentlich in der Zeit zwischen dem Sechstagekrieg 1967 und dem Jom-Kippur-Krieg. Die arabisch-nationalistischen Führer lösten in den fünfziger und sechziger Jahren ihre Versprechen nicht ein. Es gab keine Freiheit, keinen Sozialstaat und die Wirtschaft stagnierte. »Diese Kluft zwischen Anspruch und Wirklichkeit wurde mit Erfordernissen im Kampf gegen den zionistischen Feind begründet.«

Doch der Angriff auf Israel 1967 endete in einer verheerenden Nieder­lage. Diese habe, so Kepel, dem arabischen Nationalismus den Todesstoß versetzt. Damit begann zugleich der Aufstieg des Islamismus und die ­Islamisierung der Politik. Als der ehemalige ägyptische Staatspräsident Gamal Abd-al Nasser drei Jahre später starb, kam mit Anwar al-Sadat ein Herrscher an die Spitze Ägyptens, der deutlich mehr vom Islam geprägt war als sein Vorgänger. Gemeinsam mit Hafez al-Assad, »der wie er nach der Niederlage von 1967 an die Macht gekommen war«, plante er den Yom-Kippur-Krieg, den Keppel den »Ramadan-Krieg« nennt. Da der Krieg während des Ramadan stattfand, brauchte es eine Fatwa, die den Krieg als Jihad qualifizierte und somit den Soldaten die Nahrungsaufnahme erlaubte. Im Nachhinein konnten so die »Siege« als unter Gottes Führung errungene dargestellt werden.

Tatsächlich waren es die Ölmonarchien am Golf, also die Wächter der Heiligen Stätten, die den weit in ihre Länder zurückgedrängten Heeren Ägyptens und Syriens halfen. Das Ölembargo setzte die USA und Europa so unter Druck, dass die USA Israel zur Waffenruhe drängten. Damit hatten die Golfmonarchien eine effektive Waffe gefunden, die steigenden Ölpreise bescherten ihnen Reichtum. Aus dieser Machtposition heraus begann Saudi-Arabien, seine erzkonservative wahhabitische Ideologie in alle Welt zu exportieren.

Schon in diesem ersten Teil der Darstellung fällt auf, dass Kepel unerwähnt lässt, dass mit Hafez al-Assad in Syrien der Baathismus und damit eine Spielart des arabischen Nationalismus gerade erst zur vollen Blüte gelangte. Kepel hängt an seiner klaren Gliederung nach unterschiedlichen Phasen. Diese Ordnung schafft Übersicht und macht das Buch lesbarer. Doch im Kapitel über den syrischen Bürgerkrieg wird es unlauter. Zwar gibt er zu, dass das Assad-Regime den Jihadismus befördert habe. Dass dies absichtsvoll geschehen wäre, sei aber nicht belegbar und reine Mutmaßung. In Teilen übernimmt Kepel sogar die Regime-Propaganda. Die al-Nusra-Front habe sich zum Attentat auf das Geheimdienstgebäude in Damaskus bekannt, schreibt er. Nach Recherchen des Spiegel-Reporters Christoph Reuter muss jedoch bei diesem ersten großen Attentat der Al-Nusra der syrische Geheimdienst selbst aktiv gewesen sein. Namhafte Syrien-Experten haben diese These mit weiterem Material gestützt. Es erscheint schwer vorstellbar, dass Kepel davon nichts wusste. Aber er erwähnt es nicht einmal. Dabei hat Kepel keinerlei Sympathien für das Assad-Regime. Nur möchte er den Jihadismus wohl noch etwas gewaltiger machen, als dieser schon ist. 

Kepel wünscht sich genau wie der französische Staatspräsident Emmanuel Macron, zu dessen Beraterkreis er gehört, eine stärkere Rolle Europas in den Konflikten der Region. Bei der Buchpräsentation in der französischen Botschaft sagte er, dass sich die Nato neu organisieren müsse. Zur Rolle Deutschland merkte er an: »Ich wurde gefragt, was Deutschlands tun könne, und habe gesagt: sich wiederbewaffnen. Das darf man natürlich nicht sagen.« Er will, dass Europa ernsthaft mit Putin verhandelt – und sich dabei seiner guten Position bewusst ist. »Das Bruttoinlandsprodukt Russlands entspricht gerade einmal dem Spaniens. Die Europäer werden den Wiederaufbau Syriens bezahlen müssen. Aber ich befürchte, dass Europa nur für die schönen Augen von Putin zahlt.«

Wer wie Kepel große Pläne hat, die Welt neu ordnen will, braucht eine klare Botschaft und eine stimmige Geschichte. Kepel erzählt sie in seinem neuen Buch. Leider ist ihr aber zuweilen anzumerken, mit welchen Absichten sie erzählt wird.

Gilles Kepel: Chaos. Die Krisen in Nordafrika und im Nahen Osten verstehen. Aus dem Französischen von Enrico Heinemann und Jörn Pinnow. Kunstmann-Verlag, Berlin 2019, 494 Seiten, 28 Euro