Ausbeutung in der digitalen Gesellschaft

Karl Marx und die Roboter

Ist der Kapitalismus bald überwunden, weil Maschinen für uns arbeiten? Pustekuchen! Die Digitalisierung bringt nicht weniger Arbeit, sondern miesere Jobs.

Die Digitalisierung bringe nicht weniger als einer Zeitenwende, heißt es. Von den Arbeitsbedingungen und -formen über die Lebenswelt, die Freizeitgestaltung und den öffentlichen Raum bis hin zu Politik und Privatsphäre scheinen die Neuerungen der Computer- und Informationstechnologie die bestehenden Verhältnisse umzupflügen – das behaupten jedenfalls diejenigen, die in der Digitalisierung die nächste industrielle Revolution erblicken.

Im Kapitalismus führt Digitalisierung nicht zur Befreiung, sondern verfestigt die Herrschaftsverhältnisse.

Technisch werden unter dem Begriff der Digitalisierung Informations- und Kommunikationsprozesse verstanden, die mittels digitaler Speicher-, Übertragungs- und Verarbeitungstechnik verbessert werden sollen. Mit Hilfe innovativer Hard- und Software soll dies immer öfter, besser und schneller möglich sein. Roboter, künstliche Intelligenz und digitale Vernetzung treiben die Automatisierung der Produktion voran. In der Arbeitswelt treten Entgrenzung und dauerhafte Erreichbarkeit durch Cloudwork, mobiles und projekthaftes Arbeiten vermehrt an die Stelle regulärer Beschäftigungsverhältnissen.

Lebendige Arbeit sei im Begriff zu verschwinden, so eine These, der Mensch werde ersetzbar. Die über Plattformen vermittelte Arbeit – sei es im Bereich der On-demand-Dienstleistungen wie dem Taxidienst Uber oder im Crowdworking – bedeutet bereits heutzutage eine neue Art der Ausbeutung. Andere sehen in der Digitalisierung Wachstumspotentiale und Standortvorteile, und es gibt Linke, die meinen, dass sich sogar neue Möglichkeiten zur Überwindung des Kapitalismus eröffnen. Prominent vertritt diese Position der englische Journalist und Ökonom Paul Mason in seinem vieldiskutierten Buch »Postkapitalismus«.

Keine Software ohne Hardware

Solche Ansätze, egal ob sie von links oder von rechts kommen, fetischisieren und verklären die Rolle der Technik – so argumentiert der jüngst im Berliner Dietz-Verlag erschienene Sammelband »Marx und die Roboter«, herausgegeben von Florian Butollo und Sabine Nuss. Die 17 Beiträge in dem Band erheben den Anspruch, nicht nur die »technisch-stoffliche« Seite der Digitalisierung – künstliche Intelligenz, Algorithmen, computerbasierte Überwachung et cetera – in den Blick zu nehmen, sondern auch die »sozioökonomische« beziehungsweise »materiell-gesellschaftliche« Seite der derzeitigen Veränderungen, so Elena Louisa Lange in ihrem Beitrag.

Die Autorinnen und Autoren beziehen sich auf Karl Marx. Der Soziologe Christian Meyer formuliert in seinem Beitrag die (rhetorische) Leitfrage des Bandes: Inwieweit ist ein Rückgriff auf die rund eineinhalb Jahrhunderte alten Texte von Marx sinnvoll, um die Digitalisierung zu verstehen? Die Annahme, dass den Arbeiten von Marx Erkenntnisse zu entnehmen seien, die auch zum Verständnis der gegenwärtigen Verhältnisse noch nützlich und notwendig sind, ist der Ausgangspunkt der im Band enthaltenen Texte.

Marx hätte die derzeit sowohl im Feuilleton als auch in der Wissenschaft diskutieren Vorstellungen vom digitalen Kapitalismus kaum geteilt. So kommt auch heutzutage keine Software, keine digitale Erfindung ohne Hardware aus. Jede künstliche Intelligenz, jeder Roboter und jede App braucht nach wie vor Mikrochips, Kabel, Sendemasten, Server und so weiter – sämtliche Daten müssen verarbeitet werden, dafür braucht es Prozessoren, Speichermedien wie Festplatten oder Clouds und all die Kommunikationsnetzwerke, die erzeugt, instandgehalten, ersetzt beziehungsweise organisiert werden müssen.

Nicht weniger Arbeit, sondern miesere Jobs

Marx wäre vollkommen klar gewesen, dass die Automatisierung und Digitalisierung nicht einfach aus dem Nichts entstehen können, sondern materielle Voraussetzungen haben. Beispiel Rohstoffe: Allein für die Produktion der über sieben Milliarden Smartphones, die in den zehn Jahren seit Einführung des ersten iPhone 2007 auf den Markt kamen, brauchte es tonnenweise Kobalt, Kupfer, Aluminium und viele weitere Materialien. Dazu gehören seltene Erden, die unter erbärmlichen Sozial- und Umweltbedingungen etwa in Indien, Brasilien und Malaysia abgebaut werden. So steht es in einem Bericht der Umweltschutzorganisation Greenpeace von 2017.

Um die digitale Welt am Laufen zu halten, braucht es Energie, die erzeugt werden muss. Auch sind Serverparks und Rechenzentren in großer Zahl notwendig, die man so gut wie nie zu Gesicht bekommt, die aber für das Funktionieren der digitalen Welt unverzichtbar sind. Alle alltäglichen elektronischen Spielzeuge, aber auch die Maschinen der lean production setzen industrielle Massenproduktion voraus und führen zu einer gigantischen, wachsenden Menge an (elektronischem) Müll, dessen Lagerung oder Weiterverarbeitung enorme Folgen hat, die – ähnlich wie die Probleme mit dem Atommüll – noch nicht völlig ab­geschätzt werden können.

Auch hätte Marx sich gefragt, wie sich die Digitalisierung zum Kapitalismus verhält, und wäre wohl zu dem Schluss gekommen, dass keine Technologie, keine App oder keine Plattform an sich Privateigentum, Markt oder Kapital unmöglich macht. Der Band von Butollo und Nuss macht in diesem Zusammenhang deutlich, dass die Entwicklung der digitalen Technologien am harten Profitinteresse und nicht etwa einem idealistischen Fortschrittsversprechen orientiert ist. Die Digitalisierung könnte durch Automatisierung dem Menschen auch heute schon gefährliche – oder zumindest lästige – Arbeit abnehmen. Im Kapitalismus führt sie aber nicht zur Befreiung, sondern verfestigt Herrschaftsverhältnisse. Daher führt die Digitalisierung auch nicht zu weniger Arbeit, sondern zu mieseren Jobs. Das oder Ähnliches liest man an vielen Stellen im Buch. Alle Autorinnen und Autoren stützen die gleiche Analyse: Dem Kapital geht es in erster Linie darum, wie billiger produziert werden kann.

Alter Wein in neuen Schläuchen

Es geht nicht um die neueste Technik oder maximale Automatisierung, sondern um Profitmaximierung. Wo es sich lohnt, wird automatisiert, wo nicht, verrichten die Menschen weiter die Drecksarbeit, wie etwa der US-amerikanische Schriftsteller und Gewerkschafter Kim Moody argumentiert.

Die Beiträge eint des Weiteren die Aussicht, dass die Digitalisierung »nicht als Umwälzung, sondern eher als ein zaghafter Suchprozess« zu verstehen sei. Gegen den Hype um die sogenannte Industrie 4.0, die »vierte industrielle Revolution« und die sogenannte Wissensgesellschaft mahnt der Band mit kritischer Sozialwissenschaft anschließend an Marx zur Mäßigung und ordnet die derzeitigen Entwicklungen historisch ein. Automatisierung ist kein neues Phänomen. Die aktuellen Debatten erinnern nicht zufällig an Diskussionen über das »menschenleere Büro« aus den achtziger Jahren. Bereits 1835 formulierte Andrew Ure den Gedanken der automatisierten Organisation der Fabrikarbeit, die qualifizierte Arbeit nach und nach überflüssig machen werde. Die heutige Debatte über Digitalisierung ist also vor allem alter Wein in neuen Schläuchen.

Das Buch von Butollo und Nuss ist spannend und Marx’sche Begriffe wie Profit, Mehrwert, Produktivkräfte und Produktionsverhältnisse werden auch meist gut eingeführt. Aber wie heutzutage Klassenkämpfe geführt werden könnten, welche Organisationsformen dafür sinnvoll wären und wie sich Widerstand von unten gestalten könnte – davon erfährt man im Buch leider nichts. Mit der Orientierung am Ökonomen Marx macht der Band deutlich, dass eine neue Technologie an sich noch zu keiner Revolution führt. Entscheidend für das Verständnis von Klassenkämpfen bleibt die Analyse des Zusammenspiels von ökonomischen, politischen und gesellschaftlichen Verhältnissen. Interessant wäre insofern auch ein Bezug auf die Jornalistischen Politischen Arbeiten Marx’ gewesen, die sich immer in die gesellschaftlichen Konflikte einmischten.