Richard C. Schneider, Publizist, über die bevorstehenden Wahlen in Israel

»Netanyahu ist nur zu schlagen, wenn er Fehler macht«

In Israel wird nächste Woche das Parlament neu gewählt. Im Interview erklärt der Publizist Richard C. Schneider, warum der Korruptionsskandal Netanyahu kaum schadet und welche Rolle Fake News im Wahlkampf spielen.
Interview Von

Am 9. April finden die Wahlen zur Knesset, dem israelischen Parlament, statt. Zeichnet sich jetzt schon ab, wer gewinnt?
In Israel kann sich bis zur letzten Minute noch alles verändern. Das kennen wir beispielweise von den letzten Wahlen 2015. Damals sah es so aus, als ob Benjamin Netanyahus Konkurrent von der Zionistischen Union, Yitzhak Herzog, mit fünf bis sechs Knesset-Mandaten Vorsprung gewinnen würde. Doch Netanyahu hatte sich dann nochmal richtig ins Zeug gelegt und einen ­intensiven Medienwahlkampf veranstaltet. Am Ende gewann er haushoch. Insofern sollte man in der israelischen Politik nicht zu viel auf Umfragen ­geben. Erst recht, nachdem am Montagmorgen (voriger Woche, Anm. d. Red.) in der Nähe von Tel Aviv eine Rakete aus Gaza einschlug und es sieben Verletzte gab, darunter drei Kinder. Die Armee hat Reservisten der Bodentruppen und der Luftstreitkräfte einberufen. Es ist einfach nicht abzusehen, was bis zur Wahl noch passiert.

Welches Ergebnis prognostizieren die neuesten Umfragen?
Im Moment sieht es so aus, dass Netanyahus Herausforderer Benny Gantz vom zentristischen Blau-Weiß-Bündnis (Kahol Lavan) zwei bis drei Knesset-Mandate Vorsprung hat. Viele Israelis wählen Gantz vor allem, um Netanyahu loszuwerden. Doch insgesamt reicht dieser Vorsprung für eine eigene Regierungsbildung nicht aus, und eine Koa­lition mit Netanyahus Likud hat Gantz mittlerweile auch offiziell ausgeschlossen. In Israel geht man momentan davon aus, dass Netanyahu die Wahlen gewinnt.

Wie wäre das möglich?
In jedem Fall ist Netanyahu auf eine Koalition mit den Rechten und Ultrarechten angewiesen. Deshalb hat er erheblich darauf hingewirkt, dass sich die Überbleibsel der nationalreligiösen Siedlerpartei HaBayit HaYehudi nach dem Weggang des Bildungsministers Naftali Bennett und der Justizministerin Ayelet Shaked (die zusammen die Partei Neue Rechte gegründet haben, Anm. d. Red.), mit der nationalreligiösen Tkuma und den Faschisten von Otzma Yehudit zu einer gemeinsam Wahlliste zusammengetan haben. Nur durch ­einen solchen Zusammenschluss ist es realistisch, dass diese drei rechten Kleinparteien die 3,25-Prozenthürde nehmen – und Netanyahu am Ende die nötigen Sitze für eine Regierungsbildung liefern.

Um wen handelt es sich bei Otzma Yehudit?
Das ist die Nachfolgepartei der in Israel verbotenen Kach-Partei des Rabbis Meir Kahane. Die Kahanisten damals und heute sind Rassisten, sie wollen alle Palästinenser, eben auch jene 1,8 Millionen Menschen, die Staatsbürger Israels sind, aus dem Land vertreiben. Netanyahus Zusammenarbeit mit dieser Partei wäre eine Katastrophe. So fiele unter anderem der Posten des Bildungsministers an das ultrarechte Wahllbündnis, das hat Netanyahu zumindest versprochen. Darüber herrschte in Israel und bei vielen Juden weltweit helle Aufregung. Doch das fällt wie üblich unter den Tisch, wenn die Raketen einkrachen. Was das für Erziehung und Bildung womöglich bedeuten könnte, wird dann von der – zweifelsohne enorm wichtigen – Frage der ­Sicherheit überlagert.

Ist Netanyahus Darstellung als Wahrer der Sicherheit glaubhaft?
Von Gantz, aber auch von den Rechten wird Netanyahu jetzt dafür angegriffen, dass er das Problem mit Gaza nicht vernünftig löse. Nach dem starken ­Raketenbeschuss vom vergangenen November hatte er sich mit der Hamas sehr schnell auf einen Waffenstillstand geeinigt. Daraufhin war der damalige Verteidigungsminister Avigdor Lieberman von seinem Amt zurückgetreten, und auch Bennett und Shaked hatten Netanyahus Politik stark kritisiert. Kurz darauf kam heraus, dass die Hizbollah Tunnel in den Norden Israels ­gegraben hatte, weshalb es nachvollziehbar war, keine weitere Front im Süden zu eröffnen. Dennoch klebt an Netanyahu der Vorwurf, er habe gegenüber der Hamas keine Strategie und sei zu weich. Jetzt könnte ihm das möglicherweise zum Verhängnis werden. Denn einerseits lastet auf ihm der Druck, auf den jüngsten Raketenangriff zu reagieren. Andererseits käme es bei den Wählerinnen und Wählern nicht gut an, wenn im Rahmen einer Intervention in Gaza tote israelische Soldaten nach Hause gebracht würden. Die Situation ist also sehr komplex für Netanyahu, man muss Tag für Tag sehen, wie er ­reagiert.

Welche Bedeutung für den Wahlkampf hat die Anklage gegen Netan­yahu wegen Korruption?
Seine Strategie, einer Anklage durch vorgezogene Neuwahlen zuvorzukommen, ist nicht aufgegangen. Doch bevor es zur offiziellen Anklage kommt, muss Netanyahu noch angehört werden, und das wird erst nach den Wahlen geschehen. Es ist bemerkenswert: Zunächst hat die Anklage Netanyahu einige Prozentpunkte in den Umfragen gekostet, derzeit allerdings scheint diese Angelegenheit ihm in den Umfragen nicht wirklich zu schaden. Das liegt zum einen schlicht an der Schnelllebigkeit der israelischen Gesellschaft. Zum anderen ist es ähnlich wie bei Trump oder anderen Populisten: Die Wählerschaft lässt sich auf so etwas gar nicht mehr ein. Das liegt unter anderem an den sogenannten Echokammern in ­sozialen Medien, die Netanyahu ja erheblich bedient, auch mit fake news.

Können Sie ein Beispiel für Netan­yahus Gebrauch von »fake news« nennen?
Es gibt zum Beispiel den Vorwurf an Benny Gantz, er habe eine Veranstaltung besucht, auf der der Tod Tausender Hamas-Kämpfer betrauert wurde. Doch das stimmt einfach nicht: Es handelte sich um eine Veranstaltung, bei der Juden und Araber gemeinsam der Opfer des letzten Krieges auf beiden Seiten gedachten – aber keine Feier für tote Terroristen. Ein anderes Beispiel: Dass Gantz’ Handy vom Iran gehackt wurde, stimmt. Doch diese Information wurde zu einem Zeitpunkt von den Medien aufgegriffen, der politische Absichten hinter dieser Bekanntgabe vermuten lässt. Es ist inzwischen auch in Israel Normalität geworden, Wahrheiten oder Halbwahrheiten genau dann zu streuen, wenn es einem passt, wenn man in Bedrängnis ist.

Auch Donald Trumps Anerkennung der israelischen Annexion der ­Golan-Höhen dürfte Netanyahu sehr gelegen gekommen sein.
In der Tat. Doch das ist kein unmittelbares Ergebnis des Wahlkampfs. Netan­yahu hatte Trump schon lange Zeit ­bearbeitet, diesen Schritt zu tun. Jetzt kommt ihm das als Wahlkampfgeschenk aber sehr zugute. Allerdings ist es in Israel Konsens, dass die Golan-Höhen aus strategischen Gründen nicht zurückgegeben werden dürfen. Gerade in­folge des syrischen Bürgerkriegs ­säßen heute womöglich die Hizbollah, der »Islamische Staat« (IS) oder al-Qaida ganz oben auf der Bergkette und würden Israel enorm bedrohen. Das ist allen bewusst.

Die Politiker des Blau-Weiß-Bündnisses werden von Netanyahu ­öffentlich als Schwächlinge gebrandmarkt. Ist diese Taktik erfolgreich?
Das ist derzeit sehr schwer einzuschätzen. Denn mit Benny Gantz, Moshe Ya’alon und Gabi Ashkenasi sind immerhin drei der vier wichtigsten Kandidaten von Blau-Weiß ehemalige Generalstabschefs; Ya’alon war sogar Verteidigungsminister unter Netanyahu. Gleichzeitig schafft es das Bündnis nicht, die Wahlkampfthemen zu ­bestimmen. Netanyahu handelt so geschickt, dass Blau-Weiß immerzu nur ­reagiert – und das macht das Bündnis in den Augen eines großen Teils der Bevölkerung extrem schwach. Gantz ist mit seiner bisherigen Taktik, möglichst wenig zu seinem politischen Programm zu sagen und nicht zu aggressiv aufzutreten, ins Hintertreffen geraten. Netanyahu wird deshalb vermutlich nur dann zu schlagen sein, wenn er selbst Fehler macht.

Gäbe es mit der sozialen Ungleichheit nicht ein Thema, das sehr viele Israelis bedrückt und bewegt?
Ja, aber das hat schon 2015 nicht funktioniert, als Yitzhak Herzog darauf den Schwerpunkt seines Wahlkampfs gelegt hatte. Damals hatte Netanyahu in den letzten Tagen vor der Wahl noch einmal medienwirksam die große Sicherheitsfrage gestellt – mit Erfolg. Gerade in der aktuellen Situation mit dem Raketenbeschuss aus Gaza und kurz vor dem Jubiläum des »Großen Marsches der Rückkehr«, anlässlich dessen erneut eine Eskalation befürchtet wird (diese blieb am Wochenende aus, Anm. d. Red.), ist die Sicherheitsfrage noch mehr in den Vordergrund gerückt.

Auch mit Blick auf den Iran?
Der Iran ist ohnehin eines der großen Themen von Netanyahu. Würde Gantz gewinnen, würde er die Politik hinsichtlich Syriens, der Hizbollah und der ­Islamischen Republik beibehalten. Doch hier kommen bei vielen Israelis Zweifel auf: Politisch ist Gantz ein absoluter Anfänger, Netanyahu hingegen ein sehr erfahrener und geschickter Politiker. Das sieht man etwa in der Art und Weise, wie er das Verhältnis zu Wladimir Putin aufrechterhält, damit ­Israel in Syrien frei agieren kann (gegen die iranische Militärpräsenz, Anm. d. Red.). Viele potentielle Gantz-Wähler zweifeln daran, dass es dem politischen Neuling gelänge, mit Putin so umzugehen.

Richard C. Schneider ist Publizist und Dokumentar­filmer. Von 2006 bis 2015 leitete er das ARD-Studio in Tel Aviv.