Die Wende brachte nur Deutschland für alle

Lambada für Lenin

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Weniger existentiell und dennoch verwirrend war das Auftreten des neuen West-Lehrers. Er unterrichtete im Sitzen, dozierte blicklos und schien wenig Interesse an uns zu haben. Sie hatten einen verbitterten Offizier durch einen nuschelnden Bürokraten ersetzt, den Zeitstrahl zum Kommunismus durch – nichts. Ich begann, die Schule zu schwänzen, stieß auf einem meiner Spaziergänge durch den Ort auf einen »A-Laden«, eine Sammlung anarchistischer Grundlagenliteratur und Klassiker. Die Betreiber waren »so Künstlertypen«, wir verstanden uns auf Anhieb. »Kinderkrankheit« hin oder her: Lesen bildet. Die Radikalität der Gedanken und Ideen, der beschriebenen Utopien einer Gesellschaft der Freien entsprach meiner stärksten Sehnsucht. Denn so, wie es war, konnte es ja schlecht bleiben, oder? Genauso plötzlich, wie ich nun Deutsche sein sollte, könnte es doch gleich ums Ganze gehen, um die Welt und die unbeantworteten Fragen der Künstlermenschen und Aufrührer aller Zeiten. Mein anerzogener sozialer Enthusiasmus war wieder kanalisiert.

In meiner Alterskohorte grassierten unzählige Spielformen ideologischer Verwerfungen. Sekten und Supermärkte feierten Konjunktur. Endlich konsumieren, haben wollen und bekommen! Andere suchten das Gegenteil, zogen aufs Land und verweigerten sich jeglichen zivilisatorischen ­Errungenschaften. In Windeseile ent­wickelte sich der organisierte Rechtsextremismus, flankiert von Betriebsschließungen und Massenarbeitslosigkeit, zum Massenphänomen. Der latent rassistische und gleichmachende Straßenterror zwang uns eine Entscheidung ab: »Sag mir, wo du stehst.« Wie oft hatte ich dieses Lied gesungen? Immer brav mitgemacht beim Marschieren und Behaupten. Still gestanden und geschwiegen, wenn einer ungerecht behandelt worden war. Ob sie mich deshalb jagten? Die Explosion der Zweifel. Ich hatte inzwischen kapiert, dass mich meine Eltern und Lehrer belogen hatten, was den Zustand der Welt und die Zukunft des Sozialismus betraf. So wie ich mich selbst belogen hatte. Ich hatte begriffen, dass manche Freunde, Mitschüler und Nachbarskinder das lange vor mir gewusst hatten. Und doch weigerte ich mich, »die Idee« loszulassen. Nicht einmal aus Angst.

Wenn sich Menschen entgegen ihren ureigenen Interessen verhalten, dann können sie sich genauso gut freiwillig dafür entscheiden. Wäre das so überraschend? Im Laufe der Jahrzehnte sind die Leute nicht nur in Deutschland all den unfassbaren Gräueln, den Nazi-Verbrechen, den Opfern von Krieg und Vernichtung zum Trotz, immer weiter oder wieder dem nationalen Taumel erlegen. Der Propaganda des Hasses. Den Gefühlen von Erhabenheit, den sentimentalen Anwandlungen gegenüber ausschließlich sich selbst.

Heiner Müller hatte die Mauer einmal »Stalins Denkmal für Rosa Luxemburg« genannt. Ein Symbol des Scheiterns der sozialen Revolution. Es würde neue Mauern geben, von anderer Architektur: Frontex und die EU-Außengrenzen. Nur lässt sich ein verzweifelter Mensch so wenig aufhalten wie der Wind. Die Liste der Toten wird länger. Und mit ihr die Notwendigkeit, die Welt, wie sie ist, radikal zu verändern. Die bestand vor, während der und nach den Ereignissen von 1989.