Niklas Maak, Architekturtheoretiker, über neue Ansprüche an die Wohnarchitektur

»Hierzulande wird Privatheit vor allem negativ gedacht«

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Interview Von

In »Wohnkomplex« kritisieren Sie, dass die deutsche Wohnarchitektur das veränderte Verhältnis von ­»öffentlich« und »privat« nur unzureichend reflektiere. Inwiefern?
Hierzulande herrscht eine sehr schematische und unzeitgemäße Vorstellung davon, was es bedeutet, privat, und was, öffentlich zu sein. Wenn wir zum Beispiel auf dem Bett liegend E-Mails schreiben, chatten und online einkaufen, dann machen wir Dinge, die ­früher auf dem Marktplatz stattgefunden haben, also in der Öffentlichkeit. Daneben lassen sich viele Menschen elektronisch tracken, um etwa über die Analyse der Herzfrequenz etwas über die Qualität ihres Schlafs zu erfahren. Dadurch werden sie noch im Schlaf – einer früher höchst privaten Angelegenheit – zu Produzenten verkaufbarer Daten.
Wer nach einer solchen Nacht ohne das Handy das Haus verlässt, um in Ruhe einen Spaziergang zu machen – geht der dann wirklich von einem pri­vaten in den öffentlichen Raum? Diese Entwicklung eröffnet bestimmte Möglichkeiten, gleichzeitig stellt sich die Frage, wie der private Raum geschützt werden kann vor der kompletten Auswertung, Ausspähung und Kommerzialisierung. Architektur muss diese Fragen reflektieren.

Wo sehen Sie das bisher realisiert?
Spannend finde ich viele Projekte aus ­Japan, wo es traditionell ein flexibleres und graduelles Verständnis von privat und öffentlich gibt. Hierzulande wird Privatheit vor allem negativ gedacht: als jemandem »etwas wegnehmen«, so wie es das lateinische Ursprungsverb privare meint. Dieses Private wird dann kriegerisch verteidigt, mit dicken ­Mauern – oder auch mit Waffen. Interessant ist, dass es eine Obsession in Bezug auf den Schutz des Privaten gibt. Aber was ist mit dem Schutz des Öffentlichen, des Gemeinsamen?

In Japan, aber auch in anderen nichtwestlichen Ländern ist das Kriegerische des »Privatum«, des »Wegnehmens« von einem imaginären Kollektiv, das im westlichen Denken als unvermeidbare Voraussetzung aller Individuation oder Selbstwerdung betrachtet wird, viel ­weniger wichtig für eine Idee des Daseins. Großzügigkeit, Hospitalität und Generosität spielen eine viel größere Rolle und sind elementar, um Teil der Welt zu werden. Das zeigt sich auch in der japanischen Gegenwartsarchitektur, wo die große Mehrheit der Baumaterialien nicht für Mauern, sondern ­horizontal zum Schutz vor Sonne und Witterung eingesetzt wird. In Mega­städten wie Tokio ist es aufgrund des Platzmangels zudem schlicht notwendig, intelligente Lösungen zu entwickeln und bestehende Ideen und Konzepte in Frage zu stellen.

Welche Typologien und Entwürfe haben Sie hier vor Augen?
Sou Fujimoto hatte den Auftrag, auf nur 60 Quadratmetern ein Haus für eine Familie inklusive eines Autostellplatzes zu errichten. Auf drei Etagen war das nicht machbar – bis er den Begriff der Etage hinterfragte. Er fing an, ein zehn Meter hohes Haus mit über 20 Ebenen zu konstruieren, die komplex vernetzt sind mit kleinen Treppen. Er hat eine zauberhafte Wohneinheit für eine ­Familie geschaffen, verwinkelt, mit vielen Rückzugsmöglichkeiten, aber auch gemeinschaftlich nutzbaren Räumen. Fujimotos »NA« ist ein gutes Beispiel dafür, wie japanische Architekten bestehende Kategorien produktiv und ­innovativ in Frage stellen. Das Haus besteht eigentlich nur aus verglasten Fensterrahmen, für Intimität sorgen Vorhänge. Es gibt geborgene Nischen und offene Ebenen, auf denen man so exponiert wie auf einem Felsvorsprung über dem Meer sitzt.

Oder das berühmte Moriyama House von Ryue Nishizawa. Diese Zusammenstellung von Mikrohäusern ­eröffnet einen Zwischenraum aus schmalen, aber zur Straße hin geöffneten Gassen und Plätzen, wo die Bewohner sich treffen können.

Dadurch wird eine Form von Kommunikation gefördert, die mehr ist als die kommerziell überformte Öffentlichkeit, die wir heute kennen.

Oder die Yokohama Apartments von On Design. Das Gebäude hat im Erd­geschoss eine Art Wohnzimmer, das durch eine riesige Gardine zur Stadt hin geöffnet werden kann – eine intelligente Form, um das Verhältnis von Öffentlichkeit und Privatheit flexibel und graduell zu definieren, und auch, um den Austausch und die Begegnung mit der Nachbarschaft neuartig zu ­aktivieren. Bei solchen Begegnungen ist es auch wichtig, Konflikte und ­Diversität produktiv auszuhalten.

Da ist in der heutigen Architektur kein weit verbreiteter Gedanke, oder?
Allerdings. Es dominiert ein am worst case orientiertes Denken. Das hat vielleicht zu tun mit einem Wandel von einer Gesellschaft, die optimistisch war und Begegnungen auch mit Fremden eher als Bereicherung wahrgenommen hat und deren höchste, auch von der Stadt zu ermöglichende Werte Freiheit und Selbstbestimmung waren, hin zu einer Stadt, die ausschließlich Komfort und Sicherheit verspricht. Bei aller oberflächlichen Verschönerung und Ökologisierung entspricht die heutige Stadt der Entwicklung des Autos vom Cabriolet hin zum SUV: von einer nahezu frivolen Art, offen zu sein und sich den Naturgewalten auszusetzen, hin zu einer ängstlich-bedächtigen Art, den öffentlichen Raum zu betreten, im Gefühl beständiger Bedrohung.

Das sind Vorstellungen, die auch die Debatte über Geflüchtete dominieren.
Die Medien zeigen entweder bedroh­liche, anonyme Massen, die auf Deutschland zumarschieren, oder – als Illustration gelungener Integration – deutsche Handwerker, die Geflüchteten etwas beibringen, als hätten diese keine Ahnung. Das ist paternalistisch, denn oft könnten etwa deutsche Köche oder Programmierer viel von ihren syrischen Kollegen lernen. Architektur kann ein starkes, optimistisches Bild von einer gelungenen, die ortsansässige Bevölkerung bereichernden Kooperation schaffen. Die Massenunterkünfte für Geflüchtete mit einem großen Zaun drumherum tun das nicht.