Michael Hardt im Gespräch über biographische und aktuelle Zugänge zu Marx

»Die Geschichte des Kommunismus ist voller Niederlagen«

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Interview Von

Sehen Sie einen Zusammenhang dieser weltweiten autoritären Entwicklung mit den zuvor genannten populären Revolten?
Ich wäre vorsichtig mit der Behauptung, dass diese autoritären Regimes durch die Bedrohung der Befreiungsbewegungen verursacht wurden. Wir erleben gerade eine autoritäre Wende des Neoliberalismus mit dem Wiederaufleben und dem Machtzuwachs nationaler Regimes. Wir müssen den Neoliberalismus und die globale Ordnung auf der Basis dieser autoritären Regimes überdenken. Das bedeutet nicht, dass wir zum bewaffneten Kampf oder anderen Mitteln des militanten Antifaschismus der ­Vergangenheit zurückkehren müssen. Dieser neue Zustand stellt die Organi­sation der Befreiung vor neue Herausforderungen.

Wir reden ja immer noch über Marx’ Geburtstag. Wo sehen Sie denn an­gesichts dieser Herausforderung eine Inspiration, um Antworten auf diese zu finden?
Ich versuche es einmal mit einer lokalen Antwort, aber vielleicht funktioniert sie auch im Allgemeinen: Um zu verstehen, wie Donald Trump an die Macht kam und wie er hinsichtlich der etablierten politischen Parteien agiert, fand ich es ausgesprochen hilfreich, dies im Rahmen von Marx’ »Achtzehnten Brumaire« zu verstehen (siehe auch Seite 4). Wie konnte in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts Louis Bonaparte, ein unbeholfener Idiot, Frauenfeind und Glücksspieler, an die Macht kommen – und warum ließen die beiden großen Parteien der französischen Bourgeoisie es zu? Was bedeutet dies für die Möglichkeiten von revolutionärem Kampf? Inmitten einer fürchterlichen Niederlage analysierte Marx 1851 völlig korrekt, wie die Machtstruktur sich verändert hatte.

Wäre es verfrüht zu fragen, was man daraus für den Kampf um Befreiung heute schlussfolgern kann?
»Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte« bietet ein Modell, das nützlich sein könnte. Im letzten Kapitel entwirft Marx das Konzept des revolutionären Kampfs als Maulwurfsarbeit. Die Idee ist, dass die Revolution aufsteigt und besiegt wird und dann scheinbar verschwindet. Doch in Wahrheit arbeitet sie unter Oberfläche weiter. Das nächste Mal, wenn sie wieder aufsteigt, wird sie sich noch weiter entwickelt haben. Marx versucht die Kontinuität des ­revolutionären Kampfes in einer scheinbar diskontinuierlichen Geschichte zu verstehen. Das ist die Arbeit des Maulwurfs. Das sagt jetzt noch wenig über die Form aus, die dieser Kampf annehmen wird, aber es zeigt, wie unsere ­eigenen revolutionären Handlungen sich an die der Vergangenheit anschließen.

Hat Marx nicht das Phänomen Bonaparte völlig falsch eingeschätzt? Er hielt ihn für eine historische Eintagsfliege, doch er blieb 20 Jahre an der Macht. Die Revolution betritt erst mit der Pariser Kommune wieder die Bühne der französischen und der Weltgeschichte.
Eine weitere Niederlage. Die Geschichte des Kommunismus ist voller Nieder­lagen. Nicht Scheitern. Niederlagen. Das scheint mir, was Marx selbst versucht auszudrücken.

Im »Brumaire« findet sich auch die Figur des Lumpenproletariats – ­jener Teil der unteren Klassen, die sich auf die falsche Seite schlagen. Ist das nicht ein Phänomen, dass Linke zum eigenen Schaden unterschätzen?
Ich finde, das ist eine der vielen Stellen, an der wir über Marx hinausgehen sollten. Das bedeutet nicht, dass man ihn vergessen soll. Meine Referenz wäre hingegen die Black Panther Party in den USA, die das Lumpenproletariat als revolutionäre Kraft ­theoretisch neu fassen wollte. Sie sah den Erfolg ihrer eigenen Organisation in den Gefängnissen und unter den Arbeitslosen, und sie sah dabei auch die Klassenspaltung entlang rassistischer Kriterien. Sie sah im Subproletarier das Potential, wenn nicht gar die Notwendigkeit, ihn zu organisieren. Die Panthers hätten übrigens auch nicht gesagt, dieses Subproletariat sei zwangsläufig, unmittelbar oder spontan revolutionär. Es bedarf dafür der Organisation und des politisches Handelns.