Ein Nachruf auf den Theoretiker Moishe Postone

Revolutionär der Antisemitismuskritik

Seite 2

 

Gegen Ende seines Lebens hielt Postone nochmals fest, dass das meiste, was unter dem Titel »Marxismus« fungiert, viel eher ein »Engels­ismus« sei, und Engels in vielen Punkten »wirklich nicht verstanden hat, worum es bei Marx geht«. Im Gespräch mit dem ORF-Korrespondenten Raimund Löw erklärte Pos­tone auf dem Wiener Humanities Festival dem erstaunt dreinblickenden ehemaligen Trotzkisten im ­November 2017, dass »Marx keine Kritik der Gesellschaft vom ›Standpunkt der Arbeit‹, sondern eine Kritik der Arbeit« formuliert hat: »Es ging ihm um die Abschaffung der proletarischen Arbeit, nicht um ihre Verwirklichung oder ihre Glorifi­zierung.«

 

Die »neue Welle des Antisemitismus in der arabischen Welt« zur Zeit der Zweiten Intifada und den antisemitischen Islamismus verstand Postone in Fortführung seiner Überlegungen zum Nationalsozialismus als »fetischisierte, zutiefst reaktionäre Form von Antikapitalismus«.

 

Postone bewahrte sich eine sympathische Skepsis gegenüber all jenen, die mit Bezug auf ihn und bewaffnet mit mittlerweile weitgehend zu Worthülsen verkommenen Begriffen wie »struktureller Antisemitismus« und »verkürzte Kapitalismuskritik« gegen jeglichen Sozialprotest mobilisierten. Bei allen Einwänden gegen die Bewegungslinken betonte Postone stets die Notwendigkeit der Kritik an der Verteilung des gesellschaftlichen Reichtums. Seine scharfe Kritik eines fetischistischen Antikapitalismus schlug nie um in Verachtung für die materiellen Bedürfnisse der abhängigen und der abgehängten Massen: »Man kann nicht verlangen, dass, wer protestiert, alle drei Bände des ›Kapitals‹ gelesen haben muss.«

Die »neue Welle des Antisemitismus in der arabischen Welt« zur Zeit der Zweiten Intifada und den antisemitischen Islamismus verstand Postone in Fortführung seiner Überlegungen zum Nationalsozialismus als »fetischisierte, zutiefst reaktionäre Form von Antikapitalismus«. Und es wäre zu hoffen, dass Postones Antisemitismuskritik in Zukunft dazu dienen kann, die dringend notwendige Solidarität mit Israel wieder ein wenig aus jener theorielosen Selbstbezüglichkeit herauszuführen, in der sich einige in den letzten Jahren eingerichtet haben, und sie wieder stärker auf eine ideologiekritische Grundlage zu stellen, die den Zionismus als jene prekäre Notwehrmaßnahme gegen die antisemitische Raserei versteht, die er in allererster Linie ist.

Postones eigenes Verhältnis zu den diversen Ausprägungen des Zionismus blieb ambivalent. Selbst noch wenn es um die dezidiert antisemitischen Spielarten des Antizionismus ging, wie beispielsweise bei der Muslimbruderschaft, konnte er sich nicht ganz von korrespondenztheoretischen Erklärungsmodellen lösen, die nahezu zwangsläufig ein Moment einer entschuldigenden Rationalisierung implizieren. Seine Kritik des manichäischen Antiimperialismus vieler Linker ging bei Postone mitunter mit Rettungsversuchen für einen historischen, universalistisch argumentierenden Antizionismus einher.

Doch auch zur kommunistischen Tradition des Antizionismus aus der Zeit vor dem Nationalsozialismus, in der seine eigenen antizionistischen Positionen der siebziger Jahre stehen, äußerte er sich später kritisch. 2010 erklärte er zwar, diese »Spielart des Antizionismus« sei »nicht notwendigerweise antisemitisch«, kritisierte aber, dass sie von einem »abstrakten Universalismus« geprägt sei, der die spezifische jüdische Erfahrung von Verfolgung und Vernichtung zum Verschwinden bringt.

In den letzten Jahren äußerte Postone sich immer wieder auch zu Fragen der internationalen Politik: Die Syrien- und Irak-Politik Barack Obamas hielt er für einen »Fehler«; die vom US-Präsidenten »erhoffte große Veränderung, insbesondere mit dem Iran-Deal« sei, »Ausdruck von Naivität«. Postone kritisierte das Ausblenden der antisemitischen Motive islamistischer Angriffe in Europa, wandte sich entschieden gegen das Gerede von der »Islamo­phobie« als neuem Antisemitismus und echauffierte sich über Judith Butler: »Einige renommierte Akademiker in den Vereinigten Staaten haben kein Problem damit, die Hizbollah und die Hamas zur globalen Linken zu zählen. Das ist wahnsinnig.«

Doch wenn es nicht gerade um ausgewiesene Nazis, Islamisten oder ihre Unterstützer in der westlichen Linken ging, wollte Postone mit seiner Kritik einen Gegenstand treffen, nicht seinen Gegner vernichten. Auf Einwände und Angriffe, die es reichlich gab, reagierte er in aller Regel nicht nur mit Argumenten, sondern auch mit einer insistierenden Freundlichkeit, die Schule machen sollte: Postone war einer der höflichsten Gesellschaftskritiker des späten 20. und frühen 21. Jahrhunderts. Zeitlebens blieb er ein empathischer Lehrer und ein zu lebendiger Erfahrung fähiger eingreifender Intellektueller, der nie zu einem interesselosen akademischen Sachbearbeiter mutierte.

In den letzten Jahren verbrachte Postone wieder viel Zeit in Deutschland und Österreich. In Berlin forschte er an der Amerikanischen Akademie, in Wien war er Fellow am Institut für die Wissenschaft vom Menschen, und er hatte noch einiges vor: Er wollte eine Leseanleitung zum »Kapital« veröffentlichen, und im Anschluss an »Zeit, Arbeit und gesellschaftliche Herrschaft« wollte er die Kritische Theorie »von ihrem Kapitalbegriff und ihrer Kapitalismuskritik aus darstellen« und sich dabei sehr viel stärker als bisher auf Adorno beziehen, zu dem er 1999 erklärt hatte, er habe ihn in »Time, Labor and Social Domination« »elegant umgangen«.

Kürzlich hatte er zugesagt, auf der internationalen Konferenz mit dem reichlich überambitionierten Titel »An End to Antisemitism« Ende Februar an der Wiener Universität seine Überlegungen zum Zusammenhang von kapitalistischer Gesellschaft und Antisemitismus einem alles andere als linksradikalen Publikum zu präsentieren. Aufgrund seiner schweren Erkrankung konnte er diese Gelegenheit nicht mehr wahrnehmen.

Die Trauerfeier für Moishe Postone fand letzte Woche in der Congregation Rodfei Zedek in Chicago statt. Am 20. März wurde er auf dem Friedhof Oak Woods beigesetzt.