»Für die Gegenwart tragen wir alle die Verantwortung«
Die Einladung, als ein 1928 in der Nachbarstadt Baden geborener Zeitzeuge, in dieser schönen Kurstadt zu sprechen, ehrt mich und ich danke dafür der Stadt Bad Vöslau.
In meiner Erinnerung taucht die Zeit vor dem Anschluss als eine glückliche Zeit auf. Ich sehe die Synagoge, die das Zentrum der großen jüdischen Gemeinde war. Insbesondere erinnere ich mich an die fröhlichen Feste, aber auch an den Fasttag Yom Kippur, als mein Vater den ganzen Tag in der Synagoge betete.
Meine Eltern meinten, als nach 1933 Juden aus Deutschland nach Österreich flüchteten, das könne hier nicht geschehen, »Leben und leben lassen« sei Quintessenz österreichischer Lebensart. Einige Jahre später, nach dem Anschluss sollte daraus »Ausgrenzen, Ausrauben und Mord« werden. Die Heftigkeit des »bodenständigen« Antisemitismus überraschte viele der schon seit fünf Jahren unter nationalsozialistischer Herrschaft lebenden Reichsdeutschen, die glaubten Österreich wäre ein gemütliches Land, wie das die rührseligen deutschen und österreichischen Filme zeigten.
Dann kam der Anschluss. Als ich im Radio die hysterischen Schreie, »ein Volk, ein Reich, ein Führer« hörte, dachte ich, diese Leute sind verrückt geworden.
April 1938, ich ging in die vierte Klasse der Volksschule im Helenental, auf dem Weg nachhause überfielen mich drei größere Hitlerjungen, die mich gegen den Zaun des Nachbarhauses stießen. Einer drückte mir die Kehle zu, die anderen verlangten »Saujud, sag Heil Hitler« . Zu meinem Glück kam aus dem Haus eine adelige Dame und jagte die Hitlerjungen weg. Sie nahm mich bei der Hand, führte mich zu unserem Haus, wo sie meiner erschrockenen und totenblassen Mutter erzählte was passiert war. Sie sagte besorgt: »Sie können das Kind nicht mehr allein in die Schule lassen“. So wurde ich schon im April 1938 aus der Schule genommen.
Nach meiner Rückkehr nach Österreich 1951 erzählte mir eine bekannte Badener Dame, dass sie während des Krieges in der katholischen Stadtkirche Nachbarin dieser Aristokratin war, und einmal 1943 zum Kaffee zu ihr eingeladen war. Die Baroness erzählte ihr diese Geschichte und fügte hinzu: »Von dem Tag an war mir klar, wie die Nazis sind«.
Als man Juden und Jüdinnen in Baden zusammenfing, damit sie mit Zahnbürsten und Lauge die vaterländischen Parolen in der Mitte der Stadt wegputzen, die Bilder kann man im Museum in Baden anschauen, tröstete unsere Mieterin Frau Weber meine Mutter und kaufte für sie ein. Meiner damals 50 jährigen Mutter ist es so Gott sei Dank erspart geblieben von einem Mob gezwungen zu werden, sich mitten in der Stadt niederzuknien, beschimpft und verspottet zu werden.
Bevor ich als 14jähriger Anfang 1943 Ungarn in Richtung Palästina verließ, schilderte mir mein Vater wie er nach dem Anschluss sich verzweifelt an unseren Mieter Mittelschullehrer Prof. Weber gewandt hatte, damit der unser Zweifamilienhaus kaufe. Doch dieser wollte sich an diesem »Raubzug“ nicht beteiligen und berief sich auf sein »christliches Gewissen«.
Wir verließen im Frühsommer 1938, nachdem unser Haus von einem angesehenen Badener Bürger »arisiert« wurde und wir unser ganzes Eigentum verloren hatten mit zwei kleinen Koffern das Land, um über die Schweiz, Italien und Jugoslawien nach Ungarn zu gelangen.
Wenn 2018 in Liederbüchern von Burschenschaften die Ermordung der siebten Million Juden gewünscht wird und Mitglieder solcher Burschenschaften hohe Ämter bekleiden, wenn österreichische Minister vor nicht allzu langer Zeit an rechtsextremen Tagungen teilnahmen, dann widerspricht das der immer wieder postulierten Ablehnung des Antisemitismus.
Meine Mutter fuhr 1940 – mit ungarischem Reisepass – noch einmal nach Baden, um der befreundeten Familie Ödenburger zu helfen. Da sie als Jüdin in keinem Hotel wohnen durfte, war sie dankbar dafür, dass die Familie Weber sie für eine Woche bei sich aufnahm. Leider konnte nur die 1922 geborene Tochter Grete gerettet werden. Leopold Ödenburger 1889 in Baden geboren und die restliche Familie wurden deportiert und ermordet.
1938 konnten nur wenige vorausahnen, dass der Nationalsozialismus zu Vernichtungslagern und zum Massenmord führen wird, dass man aber vor ihren Augen Juden schlagen, erniedrigen, berauben konnte und sich nur eine sehr kleine Minderheit so verhielt wie die Familie von Prof. Weber, kann nicht abgestritten werden.
Die schreckliche Vergangenheit kann nicht geändert werden. Doch für die Gegenwart tragen wir alle die Verantwortung.
Viele Österreicher und Ausländer fragen, kann man der vor nicht langer Zeit in die Regierung gekommenen Freiheitlichen Partei trauen, denn sie sendet widersprüchliche Signale aus. Einerseits wird übermorgen von ihrer Akademie in Wien ein Film über den heldenhaften Aufstand jüdischer Männer im deutschen Vernichtungslager Sobibor vorgestellt. Anderseits unterstützen führende Funktionäre dieser Partei das Grazer Monatsmagazin Aula, das als publizistisches Flaggschiff des völkischen Verbindungswesens impliziten Antisemitismus transportiert.
Die deutsche Antisemitismus Expertin Dr. Juliane Wetzel stellte in ihrer Untersuchung fest: Es »lässt sich sagen, dass die Autoren der Aula immer wieder antisemitische Stereotype bedienen oder solche Inhalte verbreiten, die als solche verstanden werden können bzw. wohl auch sollen.« Trotzdem wird die Aula nach wie vor von prominenten Politikern der FPÖ massiv unterstützt.
Wenn 2018 in Liederbüchern von Burschenschaften die Ermordung der siebten Million Juden gewünscht wird und Mitglieder solcher Burschenschaften hohe Ämter bekleiden, wenn österreichische Minister vor nicht allzu langer Zeit an rechtsextremen Tagungen teilnahmen, dann widerspricht das der immer wieder postulierten Ablehnung des Antisemitismus.
Es wäre aber ein fataler Fehler zu glauben, antisemitisches Gedankengut wäre in Österreich mehrheitsfähig. Seit meiner Rückkehr nach Österreich nur sechs Jahre nach der Befreiung hat sich dieses Land sehr geändert. Auf vieles was hier geschaffen wurde, können wir stolz sein.
Ich gehe seit vielen Jahren im Rahmen einer Aktion des Bildungsministeriums als Zeitzeuge in viele Schulen in Wien, Niederösterreich, Burgenland, Oberösterreich und Vorarlberg. Das macht mich optimistisch, denn in den Schulen erlebe ich das andere Österreich, das sich ehrlich mit seiner eigenen Vergangenheit auseinandersetzt.
Als Zeitzeuge erzähle ich, das was ich selbst erlebt habe ohne den moralischen Zeigefinger zu erheben und natürlich von der Familie Prof. Weber, die zu jenen „Gerechten“ gehörten, die nach uraltem jüdischen Volksglauben in jeder Generation leben und durch ihre guten Taten den Weiterbestand der Menschheit ermöglichen.
Diese Menschen sind Mahnung und Beispiel dafür, dass jeder – auch im Kleinen – seinen Beitrag dazu leisten kann, um Menschenwürde und Menschenrechte zu bewahren.