Sozis im Schlamassel
Andrea Nahles soll es richten. Die Fraktionsvorsitzende der SPD soll auch den Parteivorsitz übernehmen und auf Martin Schulz folgen, den wohl glücklosesten SPD-Vorsitzenden der vergangenen Jahrzehnte. So sieht es zumindest derzeit aus. Gut möglich, dass auch Nahles sich nicht lange wird halten können. Zu tief hat sich die SPD in das Schlamassel manövriert, als dass man heute sagen könnte, wie die SPD morgen aussehen wird. Vermutlich aber noch schlechter als heute.
Die Rolle von Nahles ist kompliziert. Sie war an allen politischen Entscheidung beteiligt, die die SPD in den vergangenen Monaten immer näher an den Abgrund gebracht haben. Nun soll sie vor dem Mitgliederentscheid der SPD für die Große Koalition werben. Schafft sie es nicht, die Mitglieder von einem Regierungseintritt der SPD zu überzeugen, muss sie wohl schon bald wieder abtreten. Stimmen die SPD-Mitglieder aber für den Koalitionsvertrag mit CDU und CSU, kommt Nahles die Aufgabe zu, in der Regierung Opposition zu simulieren. Als Partei- und Fraktionsvorsitzende soll sie die sozialdemokratischen Erfolge ihrer Minister verkaufen und zugleich die SPD als unabhängige Kraft gegen die Union in Stellung bringen.
Die Angst, als »vaterlandslose Gesellen« zu gelten, ist seit den Zeiten des Kaiserreichs tief in der Partei verwurzelt.
Zum Amtsantritt als Fraktionsvorsitzende kurz nach der Bundestagswahl sagte sie mit Blick auf die nächste Regierung: »Ab morgen kriegen sie in die Fresse.« Damals ging sie noch davon aus, es würde eine Koalition aus CDU, CSU, Grünen und FDP geben. Einen Plan für den Fall, dass die Verhandlungen zur Bildung einer »Jamaika-Koalition« platzen, hatte Nahles genauso wenig wie der Rest der SPD-Führung. Auch deshalb ist die SPD in einer so miserablen Lage. Einer Regierung »in die Fresse« zu geben, in der die Ministerien für Finanzen, Arbeit, Auswärtiges, Justiz, Familie und Umwelt von Sozialdemokraten geführt werden, dürfte schwierig werden. Als Nahles beim Parteitag im Januar für Koalitionsverhandlungen warb, rief sie den Delegierten zu: »Wir geben doch die SPD nicht auf in dem Moment, wo wir uns entscheiden, mit den anderen zu regieren.« Einerseits Eigenständigkeit bewahren und die SPD erneuern, andererseits gemeinsam mit den Unionsparteien regieren, das ist die Politik, für die Nahles und mit ihr die gesamte Parteispitze steht.
Bald sind also die SPD-Mitglieder gefragt, ob sie diese Strategie für konsistent halten. Formal stimmen sie nur über den Koalitionsvertrag ab. Der Blick in die europäischen Nachbarländer zeigt jedoch, dass es um nicht weniger als die Existenz der SPD im 21. Jahrhundert geht. Die Partei steht an einem Scheideweg. Entweder sie sucht weiter nach dem Kompromiss in der Mitte – dann kettet sie sich so lange an die Konservativen, bis es auch mit denen keine Mehrheit mehr gibt und die Faschisten an den Sozialdemokraten vorbeiziehen. In Österreich konnte man das in den vergangenen zwei Dekaden beobachten. In Umfragen rangierte die SPD zeitweise nur noch zwei bis vier Prozentpunkte vor der AfD. Oder die SPD geht in die Opposition, besinnt sich auf sozialdemokratische Politik, sucht die Nähe zu Linkspartei und Grünen, um eine Koalition links der Mitte vorzubereiten. Bei beiden Optionen geht es offensichtlich nicht um die Inhalte des Koalitionsvertrags oder den Ressortzuschnitt. Es geht um eine Perspektive über die derzeitige Legislaturperiode hinaus und um die Frage, ob die SPD danach noch eine bedeutende Rolle spielen wird.
Die Basis der SPD gilt als älter, konservativer und führungshöriger als ihre Funktionäre und Parteitagsdelegierten. Doch die personellen Turbulenzen seit dem Abschluss der Koalitionsverhandlungen stellen auch für die konservativen SPD-Mitglieder eine Zumutung dar. Nicht zuletzt, weil Nahles bei vielen unbeliebt ist – die ehemalige Juso-Vorsitzende ist den konservativen Kreisen noch immer zu links, obwohl sie davon weit entfernt ist. Längst wird über das Verfahren, wie die Vorsitzende bestimmt wurde – nämlich im kleinen Kreis im Hinterzimmer –, geschimpft und über eine Urwahl für den Parteivorsitz nachgedacht.
Einige mögen in der Ablehnung der Großen Koalition die Möglichkeit sehen, die alte Führung abzustrafen und so Platz für einen personellen Neuanfang zu schaffen. Die Angst, als »vaterlandslose Gesellen« zu gelten, ist seit den Zeiten des Kaiserreichs tief in der Partei verwurzelt. Wenn das Land die Genossen rief, waren sie stets pflichtschuldig zur Stelle. Die Formulierung »Erst das Land, dann die Partei« hört man oft dieser Tage. Damit gemeint ist de facto der Vorrang des Standorts vor den Interessen der Lohnabhängigen. In allen Umfragen gibt es unter den SPD-Anhängern eine deutliche Mehrheit für die Koalition mit den Unionsparteien. Lust auf Wahlkampf und Neuwahlen hat man in der schwersten innerparteilichen Krise der SPD seit 1949 ohnehin nicht. Es würde überraschen, wenn die Mitglieder den Koalitionsvertrag ablehnen, doch ausgeschlossen ist es nicht.
Über die Möglichkeit, dass es so kommt, schreibt Jasper von Altenbockum in der FAZ: »Eine Niederlage wäre eine politische Katastrophe. Die Partei würde vollends in die Zeit vor dem Godesberger Programm zurückfallen, in dem sich der Sozialismus mit der Wirklichkeit anfreundete.« Vielleicht wäre es genau solch eine Katastrophe, die die SPD und die Milieus, die sie mal vertreten hat, benötigen. Die britische Labour Party macht gerade vor, wie das aussehen könnte. Fest steht, dass die SPD die Mitgliederbefragung bis Anfang März abschließen möchte. Die Jusos wollen mit einer großen parteiinternen Gegenkampagne doch noch ein »Nein« der Basis zur Großen Koalition erreichen.