29.06.2017
Nach den Wahlniederlagen befindet sich der Front National im Richtungsstreit

Keine Stunde der Patrioten

Sowohl die Präsidentschaftswahlen als auch die Parlamentswahlen in Frankreich verliefen für den rechtsextremen Front National enttäuschend. Der innerparteiliche Richtungsstreit hält an.

Acht Kandidaten kamen am Ende durch. Sie werden den rechtsextremen Front National (FN) in der am 11. und 18. Juni neu gewählten französischen Nationalversammlung vertreten. Diese Mandate konnte die Partei unter den Bedingungen des Mehrheitswahlrechts und ohne Verbündete erringen. In der Legisla­turperiode von 2012 bis 2017 stellte die Partei nur zwei Abgeordnete: Marion Maréchal-Le Pen und Gilbert Collard. Wegen innerparteilicher Streitigkeiten und des Wunsches, sich auf ihr Privatleben und eine Karriere außerhalb der Politik zu konzentrieren, hatte Maréchal-Le Pen, die Nichte der FN-Vorsitzenden Marine Le Pen, am 10. Mai auf eine erneute Kandidatur verzichtet – nur drei Tage nach der für den FN verlorenen Präsidentschaftswahl. Dies wurde auch als innerparteiliches Krisensignal gewertet.

Ein Kuriosum dieser Wahl besteht darin, dass zwei der neu gewählten FN-Parlamentarier vormals hauptberuflich Politik in anderen Parteien betrieben, und zwar in ganz unterschiedlichen politischen Richtungen: Sébastien Chenu war Mitglied der konservativen UMP, die inzwischen in »Les Républicains« umbenannt wurde. Und der Bergmannssohn José Evrard, Jahrgang 1945, betätigte sich früher einmal bei der Kommunistischen Partei (PCF).

Die erste Runde der Parlamentswahlen fiel für die extreme Rechte und vor allem für ihre mit Abstand wichtigste Partei, den FN, enttäuschend aus. Nach den 10,6 Millionen Stimmen, die im zweiten Durchgang der Präsidentschaftswahl Anfang Mai für Marine Le Pen abgegeben wurden, holte der FN am 11. Juni nur noch 2,96 Millionen Stimmen. Eine Stimmendifferenz zwischen Präsidentschafts- und Parlamentswahl ist in Frankreich nicht ungewöhnlich. Im Vergleich zur Wahl des Staatsoberhaupts mobilisiert die Abstimmung zur Nationalversammlung für gewöhnlich weniger Menschen. Ein derart beträchtlicher Unterschied ist jedoch bemerkenswert. Der FN erhielt in den jüngsten Parlamentswahlen 538 000 Stimmen weniger als in den Wahlen zur Nationalversammlung vom Juni 2012, die auch damals wenige Wochen nach einer Präsidentschaftswahl stattfanden. Der prozentuale Gesamtanteil an den abgegebenen Stimmen beträgt in diesem Jahr 13,2 Prozent. Vor fünf Jahren waren es 13,6 Prozent. Die Stimmenthaltungen wirkten sich besonders schwerwiegend auf den FN aus, sie fielen bei der Parlamentswahl in seiner potentiellen Anhängerschaft besonders hoch aus. 57 Prozent der Wählerinnen und Wähler, die ihre Stimme bei der ersten Runde der Präsidentschaftwahl Marine Le Pen gegeben hatten, gingen dem Umfrageinstitut ­Ipsos zufolge acht Wochen später gar nicht erst zur Wahl. Zwar lag die Stimmenthaltung am 11. Juni insgesamt sehr hoch, im landesweiten Durchschnitt bei 51,3 Prozent. Doch die rechtsextreme Partei war davon überdurchschnittlich stark betroffen.

Eine Ursache dafür dürfte die Enttäuschung über das Abschneiden von ­Marine Le Pen in der entscheidenden Stichwahl um die Präsidentschaft sein. Die Parteivorsitzende landete bei 33,9 Prozent, Umfragen hatten nach der ersten Runde vorübergehend bis zu 41 Prozent angesetzt. In den Gesprächen mit potentiellen Wählerinnen und Wählern, so räumte der FN-Kandidat in Calais, Philippe Olivier, ein Schwager der Kandidatin, in der Öffentlichkeit ein, werde auch immer wieder die Fernsehdebatte zwischen Le Pen und Emmanuel Macron vom 3. Mai genannt. Hier machte Le Pen vor allem wegen ihrer erkennbaren Inkompetenz in Fragen rund um die Wirtschaft eine sehr schlechte Figur.

Le Pen soll nach der Präsidentschaftswahl niedergeschlagen gewesen sein und das Haus eine Woche lang kaum verlassen haben, wie die Wochenzeitung Le Canard enchaîné Ende Mai berichtete. Auch einige Führungsmit­glieder des FN litten offenbar unter Motivationsverlust. Der stellvertretende Vorsitzende Florian Philippot trat in der Parlamentswahl im ostfranzösischen Forbach (Lothringen) als Kandidat an, wo er mit 23,79 Prozent der Stimmen aus der ersten Runde immerhin als stärkster Bewerber hervorging, jedoch nur geringe Chancen hatte, die Stichwahl zu gewinnen – er unterlag mit 43 Prozent der abgegebenen Stimmen.

Die Pariser Zeitung Le Monde hatte vor der Stichwahl berichtet, Philippot begnüge sich weitgehend mit Fahrten im TGV zwischen Paris und Forbach (»eine Stunde und 46 Minuten«) und halte sich am Ort vorwiegend in einem Bistro gegenüber vom Bahnhof auf. Auf Journalistenfragen zu seinem Wahlprogramm verweise er lediglich auf sein Flugblatt (»Steht alles drin«); einen Terminplan seiner Auftritte habe er im Gegensatz zu anderen Kandidaten nicht veröffentlicht. Offensichtlich glaubte Philippot zu diesem Zeitpunkt nicht mehr so recht an einen Erfolg.

Die von ihm vertretene Politik, die vor allem den Austritt aus der Euro-Zone – bei potentiellen Wählern die am wenigsten populäre Forderung der Partei – und sozialpolitische Forderungen beinhaltet, geriet innerparteilich bereits nach der verlorenen Präsidentschaftswahl in die Kritik. Mehrere prominente Führungsmitglieder forderten Anfang Mai eine Abkehr von diesen Vorstellungen. Zu ihnen zählt der Bürgermeister von Béziers, Robert Ménard.
Ménard wurde auch dadurch gestärkt, dass seine zuvor nicht in der Politik ­tätige Ehefrau Emmanuelle Ménard im zweiten Wahlgang ebenfalls zur Abgeordneten gewählt wurde. Sie wird künftig den Wahlkreis rund um Béziers im Parlament vertreten. Neben ihr ziehen der FN-Vizevorsitzende Louis Aliot, der ebenfalls in Südwestfrankreich kandidierte, sowie der wiedergewählte Ab­geordnete Gilbert Collard für den Bezirk Gard als südfranzösische Vertreter des FN ins Parlament ein.
In Nordostfrankreich wurden fünf FN-Kandidaten ins Parlament gewählt, allesamt im früheren Kohlebergbau­gebiet im Pas-de-Calais. Zu ihnen zählt Marine Le Pen, die in Hénin-Beaumont – das Rathaus der Stadt wird seit März 2014 vom FN regiert – mit 58,6 Prozent das höchste Stimmergebnis für die Partei holte. Das Ringen zwischen einem südfranzösischen FN, dessen soziale Basis eher die Mittelschicht stellt, und einem nordfranzösischen FN mit einer stärker proletarisierten Wählerschaft bleibt damit vorläufig unentschieden.
Am Dienstag nach der ersten Runde der Parlamentswahl erneuerte Robert Ménard seine Angriffe auf die Forderung nach dem Austritt aus der Euro-Zone sowie auf »realitätsfremde wirtschaftspolitische Vorstellungen« mancher Personen der bisherigen Parteiführung, vor allem der Philippot-Fraktion. Auch der FN-Generalsekretär Nicolas Bay distanzierte sich am 12. Juni teilweise von Philippot. Insbesondere kritisierte er die Tatsache, dass dieser kurz nach den Präsidentschaftswahlen einen eigenen Verein eintragen ließ, der neben der Partei existiert. Er trägt den Namen Les Patriotes. Es ist bekannt, dass Philippot eine ebensolche Umbennung der Partei anstrebt. Er unternahm bereits 2014/2015 Versuche in diese Richtung, damals ließ er den neuen Organisationsnamen beim Patentamt für sich eintragen. Dass Philippot und alle ihm besonders nahestehenden Kandidaten bei der Parlamentswahl scheiterten, dürfte nicht nur seine Aussichten auf eine Umbenennung ungünstig beeinflussen.