Der »Islamische Staat« ­verliert nach und nach sein Territorium

Rückzug in die Wüste

Der »Islamische Staat« verliert in Syrien und dem Irak große Teile seines »Kalifats«. Er versucht, insbesondere auf Afghanistan und Südostasien auszuweichen.

Um die territoriale Ausbreitung des »Islamischen Staats« (IS) in seinen einstigen Hochburgen noch zu erkennen, musste man zuletzt genau hin­sehen. Nur noch die winzigen Umrisse der Gassen von Mossuls Altstadt im Irak waren bis stellvertretend für die Herrschaft des IS schwarz unterlegt. Rund um das syrische Raqqa schmilzt der schwarze Fleck von Nord, Ost und West zusehens. Die täglich aktualisierten Karten vom irakisch-syrischen Kampfgebiet des Online-Dienstes »live­UAmap« verdeutlichen, dass der IS zumindest territorial bald von den Landkarten verschwunden sein dürfte.

Genau acht Monate nachdem eine ­Allianz von kurdischen Peschmerga, irakischer Armee und schiitischen Milizen angetreten ist, den IS aus der einstigen Millionenmetropole Mossul zu vertreiben, ist das Herrschaftsgebiet der Gotteskrieger dort auf knapp vier Quadratkilometer geschrumpft. Am Montagabend sollen sich nach Informationen von iraqinews.com etwa 1 500 Kämpfer in der Nuri-al-Kabeer-Moschee verschanzt haben. Hier rief Abu Bakr al-Baghdadi am 29. Juni 2014 das »Kalifat« aus. Zwei Jahre später liegt dieses in Schutt und Asche.

Nicht viel besser steht es um die syrische Front des IS. Die Demokratischen Kräfte Syriens (SDF) haben in der ersten Junihälfte Stadtteile von Raqqa erobert, der Hauptstadt des syrischen Kalifats. Die US Airforce unterstützt die Allianz aus Arabern, Turkmenen, Assyrern und kurdischen Volksverteidigungseinheiten mit Bombardements. Bürgerjournalisten von Raqqa Is Being Slaughtered Silently (RBSS) berichten von täglich einschlagenden Artilleriesalven, denen Zivilisten und Dutzende IS-Kämpfer zum Opfer fallen. »Wasser- und Energieversorgung sind zusammengebrochen«, berichtet RBSS. »Das Stadtzentrum ist täglich das Ziel von Luftangriffen, der Nisan-Park wurde mittlerweile zum Friedhof umfunktioniert.«

Doch auch wenn der IS in den kommenden Wochen den finalen Schlag in seinen einstigen Kerngebieten erleben dürfte, ist es zu früh für Siegesgeschrei. Denn die Organisation hat sich neu aufgestellt, seit sie in den vergangenen Monaten militärisch unter Druck geriet. So sei die Abteilung für externe Attacken bereits aus Raqqa abgezogen worden, berichtet der Washingtoner Think Tank Institute for the Study of War (ISW). »Die Zelle befindet sich nun im Südosten Syriens, einem Gebiet, in dem die US-Partner der SDF keine militärische Macht ausüben«, heißt es in einem aktuellen Bericht.

Im Ausland angeworbene Kämpfer werden nun nicht mehr auf den Schlachtfeldern zwischen Raqqa und Mossul verheizt, sondern in ihren Heimatregionen in Afghanistan und Südostasien eingesetzt.

Zudem konnte die Terrormiliz im diesjährigen Ramadan globale Aktionsbereitschaft unter Beweis stellen. Auch wenn die jüngsten Attentate in Manchester, London und Paris wohl eher einem europäischen Terror-Franchise zuzuordnen sind, so hat doch der Doppelangriff in Teheran auf das Parlament und das Mausoleum von Khomeini am 7. Juni mit 17 Toten gezeigt, dass der IS weiterhin in der Lage ist, komplexe Angriffe zu planen und auszuführen. Ein Ende derartiger Attacken ist nicht absehbar, auch wenn die Organisation in Syrien und im Irak weiter an Territorium verliert. In seiner aktuellen Lageeinschätzung geht das ISW davon aus, dass der IS gegenwärtig eine Phase der Transformation durchläuft. So würde er seine »Angriffskapazitäten weiter globalisieren, auch um einen totalen Gebietsverlust in Syrien und im Irak verkraften zu können«, heißt es von Seiten des Think Tank. »Das globale Netzwerk der Organisation ist robuster und widerstandsfähiger denn je zuvor.«

Darüber hinaus manifestiert sich die Ausdauer der Schergen des Kalifats in den zahlreichen Ablegern, welche die Organisation unter anderem in Libyen, Afghanistan und dem Sinai unterhält. Insbesondere am Hindukusch verfügt der IS über die Stärke für Kriegsope­rationen. Anfang Juni eroberten IS-Kämpfer den berüchtigten Höhlenkomplex Tora Bora von den Taliban. Hier hielt sich schon der al-Qaida-Führer Ussama bin Laden versteckt. Erst nach fünf Tagen gelang es der afghanischen Armee, die Islamisten zu vertreiben.
Verantwortlich für diese Entwicklungen ist auch eine neue Personalpolitik im Kalifat. Im Ausland angeworbene Kämpfer werden nun nicht mehr auf den Schlachtfeldern zwischen Raqqa und Mossul verheizt, sondern in ihren Herkunftsregionen in Afghanistan und Südostasien eingesetzt, um dort Kommandobasen aufzubauen. »Der IS vollzieht eine Transformation von einem Protostaat hin zu einem Aufstand (insurgency)«, fasste Will McCants die Entwicklungen jüngst für Foreign Policy zusammen. Ob Abu Bakr al-Baghdadi in Syrien tatsächlich ge­tötet wurde, wie von russischen Medien behauptet, scheint hierfür unerheblich.

Indessen bedeutet die vorübergehende Abwesenheit des IS in Syrien und im Irak nicht die Anwesenheit von Frieden. Schon jetzt hat sich der IS teilweise in die Wüste zurückgezogen. Während der syrische Präsident Bashar al-Assad seine Macht im Rumpfstaat mit brutalsten Mitteln konsolidiert, schreckt der Verbündete Iran bei der Inanspruchnahme seiner regionalen Interessen offenbar auch nicht vor einer militärischen Konfrontation mit den USA zurück. »Sobald der IS von der Karte verschwunden ist, besteht auch die Gefahr, dass die Zurückhaltung schwindet, mit der sich vom Iran und von den USA unterstützte Rebellengruppen bislang begegneten«, sagte der ehemalige Mitarbeiter des US-Verteidigungsministeriums Ilan Goldenberg unlängst dem britischen Guardian.

Die Geltungsdauer der Absprache, sich im Kampf gegen den IS nicht in die Quere zu geraten, scheint sich dem Ende zuzuneigen. Zu einer ersten Eskalation kam es in dem Wüstendorf al-Tanf, unweit des syrisch-irakisch-jordanischen Dreiländerecks. Als sich ein Stoßtrupp von Assads Milizen einem Außenposten von rund 150 US-Soldaten näherte, wurde er von der US-amerikanischen Luftwaffe bombardiert. Ihren bisherigen Höhepunkt erreichte die Konfrontation zwischen den USA und Assads Verbündeten aus Russland und dem Iran am 19. Juni. Eine US-amerikanische F-18 schoss nahe Raqqa eine Sukhoi-22 der syrischen Luftwaffe vom Himmel. Die Begründung der USA: »kollektive Verteidigung für einen Verbündeten« – offensichtlich die von Kurdenverbänden dominierte Miliz SDF. Die Reaktion Russlands und des syrischen Regimes folgte prompt: US-amerikanische Flugzeuge im syrischen Luftraum östlich des Euphrat sollen künftig als ­Ziele betrachtet werden, hieß es.

Auch wenn kaum davon auszugehen ist, dass die syrische Luftabwehr fortan reihenweise Kampfjets der USA abschießt, so ist das Signal doch deutlich. Russland und der Iran betrachten Syrien als Teil des eigenen Einflussbereichs in der Region. Der Iran verfügt in Syrien über Milizen, die hinsichtlich ihrer zahlenmäßigen Stärke und ihrer Ausrüstung Armeen gleichen. Nicholas Heras, ein Experte beim Think Tank »Centre for a New American Security«, drückt es in der Zeitschrift Foreign Policy diplomatisch aus: »Es sieht ganz danach aus, dass die Iraner, Assad und die vom Iran mobilisierten irakischen Milizen entschlossen sind, den Amerikanern kein freies Geleit bei ihrem Anliegen zu geben, mehr Territorium in der syrischen Wüste zu erobern.« Dass es um al-Tanf – nicht zufällig im Korridor Teheran–Damaskus gelegen – auch in Zukunft militärische Auseinandersetzungen geben wird, ist absehbar. Doch auch in anderen Teilen Syriens drohen neue Konflikte. Im Februar hatte die Freie Syrische Armee (FSA) mit türkischer Unterstützung den IS aus der nordsyrischen Stadt al-Bab vertrieben. Kaum vier Monate später brachen erste Konflikte zwischen zwei Milizen der Allianz aus. Anfang Juni starben bei Feuergefechten mehr als ein Dutzend Männer.

Selbst in befriedeten Gebieten hemmen die Hinterlassenschaften des Kalifats den Wiederaufbau. Einer dieser Orte ist Jalawla in der irakischen Provinz Diyala, 80 Kilometer nordwestlich von Bagdad. Als die Stadt mit 100 000 Einwohnern im August 2014 vom IS erobert wurde, schlossen sich viele sunnitische Araber den neuen Herrschern an. Als kurdische Peschmerga die Stadt drei Monate später befreiten, war sie weitgehend zerstört. Die nicht sunnitischen Einwohner waren geflohen. »Zwar sind bis zum Juni 2017 etwa 75 Prozent der Bevölkerung zurückgekehrt, doch das Verwaltungsgebäude liegt noch immer in Trümmern«, sagt Ayser Alkhaldy, der lokale Englisch­lehrer, im Gespräch mit der Jungle World. Einer Entscheidung des Stadtrats zufolge bleibt den früheren Unter­stützern des IS und ihren Familien die Rückkehr verwehrt. Es gibt für die Stadtbevölkerung kein Zurück in die Zeit vor dem IS.

Der Wiederaufbau bleibt den Rückkehrern selbst überlassen. »Wir haben bis heute keinen Cent aus Bagdad oder Erbil bekommen. Die Bürger bauen ihre Geschäfte und Häuser selbst wieder auf«, sagt Ayser. Lediglich die Or­ganisation Oxfam habe sie unterstützt. Die Hoffnung haben sie noch nicht aufgegeben. »Aber das hier ist Irak. Niemand kann sagen, was morgen geschehen wird«, sagt Ayser.