Die große Enthaltsamkeit
Vor genau 15 Jahren gingen in Frankreich etwa zwei Millionen Menschen auf die Straße, um gegen den rechtsextremen Politiker Jean-Marie Le Pen zu demonstrieren, der es in die Stichwahl um die Präsidentschaft geschafft hatte und gegen Jacques Chirac antrat. In diesem Jahr gelang es Marine Le Pen, der Tochter und politischen Erbin des mittlerweile fast 89jährigen Neofaschisten, unter ganz anderen Bedingungen die Stichwahl zu erreichen. Anders als damals kam dies nicht überraschend.
In den KP-regierten Kommunen, die es in den Banlieues noch gibt, bekam Mélenchon über 30 Prozent der Wählerstimmen.
Während am späten Abend des 21. April 2002 Zehntausende Menschen mit Sonnenblumen, roten Jungsozialistenfahnen und improvisierten Schildern spontan auf der Pariser Place de la Bastille demonstrierten, blieb dieses Mal massenhafter Protest aus. Am selben Ort demonstrierten am vorvergangenen Sonntag nur 300 Menschen aus dem harten Kern der autonomen Szene. Sie stellten die beiden Stichwahlkandidaten, Emmanuel Macron und Marine Le Pen, auf eine Stufe. Teilnehmer des großspurig als »Nacht der Barrikaden« angekündigten Protests beschädigten Glasscheiben und beschimpften Gäste auf einer Caféterrasse: »Der Banker hat gewonnen, na, na, seid ihr jetzt zufrieden?« Am selben Abend gingen in Nantes und in Rennes ebenfalls Autonome auf die Straße, es kam insgesamt zu einigen Dutzend Festnahmen. Mittlerweile kursieren in Online-Medien Misshandlungsvorwürfe gegen die Pariser Polizei.
Bei Gewerkschaften sowie antirassistischen Organisationen und Menschenrechtsverbänden stößt Marine Le Pen dagegen auf deutlich größere Ablehnung als Macron. Die Veranstaltungen am 1. Mai fielen allerdings nicht besonders groß aus. An den gewerkschaftlichen Maidemonstrationen nahmen laut Veranstaltern 280 000 Menschen teil. In Paris kam es zu Auseinandersetzungen zwischen Linksradikalen und der Polizei. Einige der Parolen richteten sich direkt gegen den FN, andere deckten die normalen Gewerkschaftsthemen ab.
Dass Marine Le Pen am kommenden Sonntag wirklich gewählt wird, ist »unwahrscheinlich, aber nicht unmöglich«, wie es etwa der Politikwissenschaftler Guillaume Bernard formuliert. Doch auch eine FN-Kandidatin, die in der Stichwahl rund 45 Prozent der Stimmen gewinnt, hätte künftig eine ganz andere politische Bedeutung; der Einfluss des FN würde größer.
Nachdem Jacques Chirac im Mai 2002 mit 82 Prozent der Stimmen wiedergewählt worden war, verschwand Jean-Marie Le Pen größtenteils aus der öffentlichen Wahrnehmung. Vergleichbares dürfte dem FN in den kommenden Monaten nicht widerfahren, zumal am 11. und 18. Juni noch die französischen Parlamentswahlen folgen. Bislang verschafften die Wahlberechtigten kurze Zeit nach der Wahl eines neuen Präsidenten dessen Partei eine Mehrheit in der Nationalversammlung. Dieses Jahr könnte es anders kommen.
Macrons im April 2016 gegründete Partei En Marche (In Bewegung) ist keine fest strukturierte politische Kraft. Zwar erhielt sie 20 000 Bewerbungen von Menschen, die sich bereit erklärten, in einem der 577 Wahlkreise bei der Parlamentswahl zu kandidieren. Unter ihnen dürften sich jedoch viele Abenteurer, Glücksritter, Karrieristen und Querulanten finden. Ansonsten wird die Führung die Wahl haben, entweder politisch unerfahrene Bewerber aufzustellen oder aber abgehalfterte Politiker aus den etablierten Parteien – der bei der Präsidentschaftswahl gescheiterten Sozialdemokratie und den Konservativen – zu recyclen. Die Leitung der Kleinpartei, die sich wie in einem Unternehmen als »Aufsichtsrat« bezeichnet und bislang die potentiellen Kandidaten zu einem nur wenige Minuten dauernden Casting empfing, wird wohl einen Mittelweg suchen. Sowohl Politiker vom rechten Flügel der Sozialdemokratie, wie der ehemalige Premierminister Manuel Valls, als auch aus den Reihen der gemäßigten Konservativen könnten im Falle eines Wahlsiegs Macrons mitregieren.
Dadurch könnte jedoch umgekehrt ein Teil der bürgerlichen Rechten stärker als bisher in Richtung Front National driften. Ein solches erklärtes oder inoffizielles Bündnis könnte in einem Parlament, das eventuell von wechselnden Mehrheiten gekennzeichnet sein wird, eine wichtige Rolle spielen.
Mitte der vorigen Woche attestierten in einer Umfrage 61 Prozent Marine Le Pen einen guten Neustart der Wahlkampagne. Zugleich waren 52 Prozent der Auffassung, Macron habe seinen verpatzt. Vergangene Woche verschlimmerte sich die Lage für Macron zunächst noch. Der frühere Wirtschaftsminister hatte am Mittwoch seine Geburtsstadt Amiens besucht, wo Arbeiter der Firma Whirlpool gegen eine drohende Massenentlassung streiken. Macron wollte mit ausgewählten Personalvertretern diskutierten, doch seine Gegnerin war schneller: Marine Le Pen besuchte die Streikposten vor der Fabrik. Als Macron sich dann dorthin begab, wurde er unfreundlich empfangen, einige Anwesende riefen: »Marine, présidente!«
Auch vor dem Hintergrund eines sozial begründeten Misstrauens gegen Macron ist zu betrachten, dass der linke, im ersten Wahlgang viertplatzierte Kandidat, Jean-Luc Mélenchon sich weigert, eine Wahlempfehlung zu geben. Er zeigte sich zunächst als schlechter Verlierer und erging sich sogar in Andeutungen über eventuelle Unregelmäßigkeiten bei der Wahl. Für seine Position gibt es jedoch einen weiteren Grund: Seine Anhängerschaft setzt sich aus einem Großteil der früheren sozialdemokratischen und parteikommunistischen Wählerschaft sowie aus Protestwählern zusammen. In ihren Reihen gibt es nun gegensätzliche Tendenzen zum Verhalten in der Stichwahl.
Überdurchschnittlich vertreten ist diese Wählerschaft in den sozialen Krisenzonen der Republik, den Banlieues. In der Pariser Vorstadt Gennevilliers stimmten 47 Prozent der Wahlberechtigten für Mélenchon. In den KP-regierten Kommunen, die es in den Banlieues noch gibt, bekam Mélenchon im Durchschnitt über 30 Prozent der Stimmen. Neben den Nichtwählern ist diese Gruppe dort derzeit das stärkste Lager.
Je nach Umfrage ziehen dort nun zwischen neun und 20 Prozent eine Wahl Le Pens in Betracht, über die Hälfte erwägen, für Macron zu stimmen. Doch die Tendenz zur Enthaltung, um nicht zwischen den »beiden großen Übeln« wählen zu müssen, ist ebenfalls stark, wie auch im Rest des Landes: »Man versucht, die Linke zu erpressen – damit sich nie etwas ändert, weil man zwischen falschen Alternativen gefangen ist«, sagt etwa Sophie, eine Anwältin serbischer Herkunft, die in Paris meist Gewerkschaften oder Migranten verteidigt.
Die französische Linke könnte derzeit nicht gespaltener sein. Der antifaschistische Kriminautor Didier Daeninckx rief am Freitag vergangener Woche Mélenchon dazu auf, das rote Dreieck von der Jacke abzunehmen, das er bei Debatten oft trägt. Dieses stand ursprünglich als Symbol für die Arbeiterbewegung – acht Stunden Arbeit, acht Stunden Schlaf und acht Stunden Freizeit täglich bildeten ein Dreieck. Unter dem Nationalsozialismus wurde es zum Kennzeichen linker politischer Häftlinge. Daeninckx wirft Mélenchon vor, dass er sich nicht mehr zu Wort meldete, seit er am Mittwoch ankündigte, er werde zwar sein einiges Stimmverhalten für die Stichwahl nicht bekannt geben, aber auf keinen Fall für Le Pen stimmen. Am Montag schärfte Mélenchon seine Position und warnte in einem Fernsehinterview vor dem »tragischen Fehler einer Stimme für den FN«. Am Vortag hatte er sich an Emmanuel Macron gewandt mit dem Vorschlag, er könne linke Stimmen leichter für sich gewinnen, wenn er etwa sein Vorhaben einer Reform des Arbeitsrechts aufgebe. Macron schlug dieses Angebot am Montag aus.
Auch der Front National hat derzeit Probleme. Am Freitag musste in Windeseile der Interimsvorsitzende, Jean-François Jalkh, abgesetzt werden, der den Posten zwei Tage zuvor von Marine Le Pen übernommen hatte. Ein Journalist der katholischen Zeitung La Croix hatte ein Zitat von Jalkh aus dem Jahr 2000 gefunden, in dem er behauptet, Massenvergasungen in den nationalsozialistischen Lagern habe es nicht geben können, weil die Belüftungstechnik dies nicht zugelassen hätte.
Mélenchon ist ein politischer Gegner Le Pens, sieht sich und sie aber offenbar als Konkurrenten um die Stimmen desselben Milieus der Unzufriedenen und Marginalisierten. 2014 hatte er bedauert, dass der soziale »Vulkan« in Frankreich »ausgebrochen« sei, der Berg sich aber »auf der falschen Seite geöffnet« habe: Jene, die durch das sich verschärfende kapitalistische Krisenregime geschädigt oder marginalisiert werden, stärkten die extreme Rechte und nicht die Linke.
Seither hat Marine Le Pen aus einem Teil der bürgerlichen Rechten Zulauf erhalten, vor allem durch die Unterstützungserklärung des EU-skeptischen Präsidentschaftskandidaten Nicolas Dupont-Aignan am Freitag voriger Woche. Er erhielt in der ersten Runde der Präsidentschaftswahl 4,7 Prozent der Stimmen. Am Samstag unterzeichneten er und Le Pen einen Koalitionsvertrag. Dieser soll den FN für verschiedene Gruppen der Rechten attraktiv machen. Die rechtsextreme Partei bleibt bei ihrer Ablehnung der EU und des Euro, was einem Teil ihrer Basis am Herzen liegt. Im »Regierungsvertrag« mit Dupont-Aignan, dem Le Pen im Falle ihres Wahlsiegs den Posten des Premierministers verspricht, steht jedoch auch, ein Austritt aus dem Euro sei »nicht die Voraussetzung für jegliche Wirtschaftspolitik«. Man gibt sich kompromissbereit für gemäßigtere Rechte, so kann der FN regierungsfähig erscheinen.