Vor 40 Jahren begann der »Deutsche Herbst« – viele Fragen sind bis heute ungeklärt

Die RAF – ein Bildungsmärchen

Der Deutsche Herbst begann im Frühling. Die sogenannte Offensive 77 zur Freipressung der Gefangenen der Roten Armee Fraktion (RAF) begann mit dem Mordanschlag auf Generalbundesanwalt Siegfried Buback und endete mit der Ermordung Hanns Martin Schleyers im Oktober 1977.

Am Morgen des 7. April 1977 wurden Wolfgang Göbel, Georg Wurster und Siegfried Buback vom »Kommando ­Ulrike Meinhof« der RAF in Karlsruhe erschossen. Als Mörder des Generalbundesanwalts und seiner Mitarbeiter wurde zuerst Knut Folkerts verurteilt, später folgten Urteile gegen Christian Klar und Brigitte Mohnhaupt.

Heute gilt als gesichert, dass weder Knut Folkerts geschossen hat noch Brigitte Mohnhaupt am Tatort war und auch Christian Klar scheidet demnach als Schütze aus. Ein Verfahren gegen das ehemalige RAF-Mitglied Verena Becker, das vor allem auf Betreiben von Siegfried Bubacks Sohn Michael 2010 bis 2012 vor dem Oberlandesgericht Stuttgart stattfand, endete mit der Verurteilung von Verena Becker wegen Beihilfe zum Mord am obersten Strafverfolger der Republik und seinen ­Begleitern. Antreten musste die mittlerweile als Heilpraktikerin tätige ehemalige Militante die Haftstrafe aber nicht. Becker, die nach ihrer Verhaftung und Verurteilung zu lebenslanger Haft wegen gezielter Schüsse auf zwei Polizisten 1977 in Haft zusammengebrochen war und sich bereit erklärt hatte, mit dem Verfassungsschutz zusammenzuarbeiten, war bereits nach zwölf Jahren Gefängnis von Bundespräsident Richard von Weizsäcker begnadigt worden. Im neuen Verfahren konnten trotz einiger Bemühungen von Gericht, Staatsanwaltschaft und vor ­allem der Nebenklage nur Teile der Verfassungsschutzakten von damals ausgewertet werden – der damalige Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble verweigerte eine umfassende Freigabe. Die Bundesanwaltschaft nahm nach dem Urteil gegen Verena Becker die Ermittlungen zu dem Anschlag der RAF auf den Generalbundesanwalt erneut auf – stellte das Verfahren aber 2015 endgültig ein.
Es ist nicht das einzige Attentat der RAF, das nicht konsequent aufgeklärt worden ist. Weder ist erwiesen, wer als »Kommando 2. Juni« am 19. Mai 1972 den Anschlag auf das Springer-Hochhaus in Hamburg verübte, noch, wer in der Deutschen Botschaft in Stockholm 1975 den Militärattaché Andreas von Mirbach und den Wirtschaftsrat Heinz Hillegaart erschoss. Auch wer den entführten Arbeitgeberpräsidenten Hanns Martin Schleyer tötete, ist nicht bekannt. Unaufgeklärt sind auch die Morde an Gerold von Braunmühl und an Alfred Herrhausen, dem Vorstandssprecher der Deutschen Bank.

Das Ausmaß des Unwissens, der Ermittlungspannen und der Misserfolge überrascht.

Das Ausmaß des Unwissens, der Ermittlungspannen und der Misserfolge überrascht, ist es dem Staatsapparat doch gleichzeitig gelungen, die meisten Angehörigen der RAF festzunehmen und zu verurteilen. Die auffällige Diskrepanz zwischen dem selbstbewussten Auftreten des starken Staats und der resignierten Haltung, die einige der wichtigsten Repräsentanten seiner Strafverfolgungsorgane an den Tag gelegt haben, weil die Aufklärung der vielfältigen Aktionen der RAF aufs Ganze gesehen schlecht gelungen ist, ist schwer aufzulösen.

Ein wichtiger Aspekt ist, dass das Strafrecht Ende der siebziger Jahre keine konsequente Aufklärung der Tat­details mehr verlangte, um die Angeklagten als Mörder zu mehrfachen lebenslangen Haftstrafen zu verurteilen. Die Richter begnügten sich mit einer recht pauschalen Konstruktion von »Mittäterschaften«. Den Anschlag auf Generalbundesanwalt Buback, kons­tatiert beispielsweise das Urteil gegen Brigitte Mohnhaupt und Christian Klar, hätten Mitglieder der RAF »aufgrund eines gemeinsam erarbeiteten Tatplanes in bewusstem und gewolltem Zusammenwirken vorbereitet und durchgeführt«. Daher gelte: »Die Angeklagten müssen sich jeweils das Handeln ihrer Tatgenossen, das sich in allen Phasen dieser Aktion im Rahmen des gemeinsam gefassten und gebilligten Tatplans hielt, als eigenes zurechnen lassen.« Der Nachweis eines individuellen Tatbeitrages wurde somit weitgehend entbehrlich. Andere Interessen, beispielswiese an eher kurzen und zu einem klaren Ergebnis führenden Verfahren, gewannen damit an Bedeutung.

Im Prozess gegen Verena Becker war das Gericht von dieser Sichtweise, die verlangt hätte, Verena Becker wegen Mordes und nicht nur wegen Beihilfe zur Verantwortung zu ziehen, zwar abgerückt. Die Aufklärung individueller Tatbeiträge hatte aber immer noch keine Priorität. Zwar ging der Vorsitzende Richter Brigitte Mohnhaupt, die diesmal als Zeugin geladen war, scharf an; ein Journalist lobte im Anwaltsblatt begeistert die »akribische Wahrheitssuche« des Gerichts: »Der Vorsitzende Richter Hermann Wieland riet der inzwischen 62jährigen Mohnhaupt nachdrücklich, die Chance für eine Aussage zu nutzen. Sie solle sich auch überlegen, wie man nach ihrem Tod über sie urteilen werde. Immer wieder hatte Wieland zuvor betont, es gebe noch ›höhere Werte‹ als das Auskunftsverweigerungsrecht nach § 55 der Strafprozessordnung. Als Mohnhaupt sich dann genau darauf berief, platzte dem Richter der Kragen: ›Es gibt Personen, die haben kein Gewissen und keine Moral!‹« Dass den Prozessbeteiligten vor allen Dingen der Staat Schranken bei der Aufklärung des Geschehens setzte, indem er Verfassungsschutzakten teilweise sperrte, nahm der Senatsvorsitzende dagegen vergleichsweise gelassen hin.

Anlässlich des letzten großen Jubiläums des Deutschen Herbstes 2007 – damals saßen noch mehrere Gefangene aus der RAF, unter anderem Christian Klar, in den Gefängnissen ein und ein Prozess gegen Verena Becker stand nicht auf der Tagesordnung –, habe ich in der Jungle World (42/2007) dazu aufgefordert, »nachdrücklicher als bisher Fragen zu stellen und auf Antworten zu drängen, damit es wenigstens nicht dabei bleibt, dass wir alle fünf Jahre die offenbar unvermeidlichen neue Dokufictions und Sciencefactions in allen Medienformaten ertragen müssen«. Die wenigen, die sich in diese Richtung engagiert haben, zum Beispiel durch die Forderung, die Unterlagen des Bundeskanzleramtes zu den tödlichen Anschlägen des Deutschen Herbstes einsehen zu können, kassierten überwiegend brüske Zurückweisung – die Anfang 2016 auch vom Bundesverwaltungsgericht gehalten wurde (BVerwG, Urteil vom 25. Februar 2016 – 7 C 18/14). Die entschiedene Aufklärung dieses Kapitels deutscher Nachkriegsgeschichte, bei der wir auch die Kontroverse über Nachrichtensperre und Gegenöffentlichkeit führen mussten, die ganz anders gewandete Vorgängerin der Debatte über fake news und »Lügenpresse«, wird voraussichtlich auch bis zum 50. Jubiläum nicht zu leisten sein.

Mit Blick auf den bislang noch nicht allzu intensiv erörterte Zusammenhang von Bildungspolitik und RAF hat eine Institution Mut zur Offenheit gezeigt, an die in diesem Zusammenhang nicht gedacht wurde. Im vergangenen Jahr öffnete die Studienstiftung des Deutschen Volkes ihre Archive und veröffentlichte die Anträge und Studienbegleitakten von drei hochbegabten Studierenden: Horst Mahler, Ulrike Meinhof und Gudrun Ensslin, die sich in den fünfziger und sechziger Jahren nicht nur radikalisierten, sondern auch Stipendien bezogen. Im Fall Ensslins geschah dies sogar noch nach der Kaufhausbrandstiftung. Dieser Veröffentlichung verdanken wir die bemerkenswerte Erkenntnis des Historikers und Herausgebers der Unterlagen Alexander Gallus: »Intelligenz und Intellektualität sind kein Garant für Mäßigung. Schauen Sie sich an: 75 Prozent der führenden Köpfe der ersten RAF-Generation waren Stipendiaten der Studienstiftung – Andreas Baader kam für eine Förderung nicht in Betracht, weil er kein Abitur hatte. Die Studienstiftung förderte in dieser Zeit jedoch nur knapp ein Prozent der Studierenden.«