Die Proteste gegen die Regierung und die Repression in Brasilien

Ins Abseits gestellt

Mit härterer Repression will die brasilianische Regierung Proteste während der Fußballweltmeisterschaft verhindern.

»Der Staat versucht, gewaltsam die Straße zurückzuerobern«, sagt Luisa D’Avola, während sie Flyer an Passanten verteilt, die hinter dem Polizeispalier einen Blick auf den Protestzug werfen wollen. Ein Hubschrauber kreist am Himmel der Metropole São Paulo. Auch an diesem Abend ist die Polizei den Demonstranten zahlenmäßig bei weitem überlegen. Über 2 300 Sicherheitskräfte leiten die rund 1 500 Demonstrierenden über die Prachtstraße Avenida Paulista. Der Wanderkessel findet sein Ende am Kunstmuseum MASP. Beamte mit dem Finger auf dem Abzug der Gummigeschossgewehre warten hier bereits. Doch heute fällt kein Schuss. Es bleibt fast durchgehend friedlich, lediglich fünf Personen werden festgenommen.
Anders war es bei vorherigen Protesten gegen die Fußballweltmeisterschaft in der Stadt, bei denen es in den vergangenen Wochen zu schweren Auseinandersetzungen und Massenverhaftungen kam. »Seit Juni vorigen Jahres tragen die Brasilianer und Brasilianerinnen ihren Protest auf die Straße. Gerade im Jahr der WM und der Wahlen kann sich die Regierung keine Destabilisierung leisten. Aus diesem Grund hat sie eine Offensive gegen soziale Bewegungen begonnen«, sagt die 25jährige D’Avola. Dass der überwiegend gewaltfreie Verlauf an diesem Donnerstagabend einem neuen Deeskalationskurs geschuldet ist, darf bezweifelt werden. Nach den Ereignissen bei den vorherigen Demonstrationen in der Stadt finden die Proteste wieder stärkeres öffentliches Interesse. Menschenrechtsbeobachter, Angestellte der Schiedsstelle der Polizei sowie ein Heer aus Pressevertretern begleiten den heutigen Protestzug.
Wenige Wochen vor dem Beginn der Fußballweltmeisterschaft in Brasilien wächst die Spannung mit jedem Tag. Während das Land in den letzten Zügen der Vorbereitungen steckt, protestieren soziale Bewegungen und studentische Gruppen gegen die WM. Ein Bündnis in São Paulo ruft seit Anfang des Jahres zu Demonstrationen unter dem Motto »Ohne Rechte wird es keine WM geben« auf. »Es werden Milliarden für die WM ausgegeben, doch ein großer Teil der Bevölkerung hat immer noch keinen Zugang zu fundamentalsten Rechten wie Gesundheit oder Bildung«, kritisiert Talita von der Gewerkschaftsbewegung CPS Conlutas. Ihren Angaben zufolge wurden bereits über 250 000 Menschen aus ihren Häusern vertrieben, um Platz für das »Fußballfest« zu machen.

Die Kritik kommt der regierenden Arbeiterpartei (PT) äußert ungelegen. Seit den Massenprotesten im Juni vergangenen Jahres steht diese nämlich nicht nur im eigenen Land stark unter Druck. Als Fifa-Generalsekretär Jérôme Valcke Anfang März Brasilien einen Besuch abstattete, fiel seine Kritik am Gastgeberland hart aus. Vor allem die Verzögerungen auf den Baustellen der Stadien bereiten dem Fußballweltverband große Sorgen. Die Fifa forderte zudem erneut Garantien, dass Demonstrationen nicht den Ablauf des Turniers stören werden.
Die Bewegung fordert mit ihrer Kampfansage »Es wird keine WM geben« die brasilianische Regierung heraus. Während diese noch im vergangenen Jahr den Dialog mit den WM-kritischen Basiskomitees und sozialen Bewegungen suchte, scheinen die Zeichen nun auf Konfrontation zu stehen. Ende Februar beendete die Polizei in São Paulo gewaltsam eine Demonstration des Anti-WM-Bündnisses und nahm 262 Personen fest. Journalisten und Anwälte berichteten von Übergriffen und Behinderungen von Seiten der Polizei. »Das waren die schwersten Bürgerrechtsverletzungen, die ich jemals auf einer Demonstration erlebt habe«, urteilte Pablo Ortellado, Professor der staatlichen Universität von São Paulo.
Die Repression zeigt sich auch abseits der Straße mit aller Härte. So wird beispielsweise 40 Aktivisten mit fadenscheinigen Begründungen die Bildung einer kriminellen Vereinigung vorgeworfen. Politik und Justiz agieren immer abenteuerlicher. So ordnete der Polizeioberst von São Paulo, Benedito Roberto Meira, den Einsatz von Wasserwerfern an, die blaue Farbe auf Demonstrierende spritzen sollen, um diese als Teilnehmer von Protesten zu markieren. In der Stadt Belo Horizonte im Bundesstaat Minas Gerais könnten schon bald verdächtige Personen vor Demonstrationen präventiv festgenommen werden. Konkret würde dies 176 Menschen betreffen, die nach ­ihrer Teilnahme an Protesten im Jahre 2013 Anzeigen wegen Sachbeschädigung erhielten.

Polizisten hingegen müssen in Brasilien kaum mit einer strafrechtlichen Verfolgung rechnen. Trotz Gewaltexzessen und Rechtsverstößen auf fast jeder Demonstration wurde bislang kein Polizeibeamter für seine Taten belangt. Diese Straflosigkeit wird durch das Fehlen jeglicher sichtbarer Identifikationsmöglichkeit begünstigt. Die Fronten sind klar: Anfang April veröffentlichte die Militärpolizei ein Schreiben, in dem sie ihre Kritiker als »Kommunisten« bezeichnete. Für den Journalisten José Antonio Lima hat sich die Militärpolizei damit erneut »ideologisch zu den reaktionärsten Positionen im Land« bekannt. Um der Repression Legitimität zu verleihen, wird auch der Tod des Kameramannes Santiago Andrade genutzt, der Anfang Februar von einem aus einer Demonstration heraus abgefeuerten Feuerwerkskörper am Kopf getroffen wurde und kurze Zeit später im Krankenhaus starb. Der Fall gibt der derzeit im Senat diskutierten Gesetzesinitiative 499 des rechten Senators Romero Juca Auftrieb.
Kritiker sehen in diesem sogenannten Anti-Terror-Gesetz den Versuch, jegliche Proteste durch eine ungenaue Begriffsbestimmung von Terrorismus zu unterbinden. Die Beteiligung an gewalttätigen Protesten könne so mit Gefängnisstrafen von 15 bis 30 Jahren geahndet werden. Pedro Estevam Serrano, Juraprofessor an der Katholischen Universität von São Paulo, bezeichnete die Initiative im Interview mit der linken Wochenzeitung Brasil de Fato als »starke Bedrohung der bürgerlichen Freiheiten«. Das »Anti-Terror-Gesetz« steht nun kurz vor seiner Verabschiedung, auch weil der PT und Präsidentin Dilma Rousseff mittlerweile das Projekt unterstützen. Regierungsmitglieder argumentieren, dass nur mit einer Verschärfung des Strafrechtes der geregelte Ablauf der WM garantiert und die Sicherheitsauflagen der Fifa erfüllt werden könnten. Rousseff kündigte außerdem auf einer Pressekonferenz an, dass man während der WM »auch die Armee mobilisieren werde«, sollte dies nötig sein, um »die Sicherheit von Fans, Touristen, Teams und die der Staatsoberhäupter zu garantieren«. Bis zu 56 000 Soldaten könnten eingesetzt werden.
Linke Aktivisten befürchten, dass die Militarisierung und die Einschränkung von Bürgerrechten auch nach dem Turnier nicht enden werden. »Die Repression wird sich nach der WM weiter zuspitzen«, befürchtet Rafael Padial von der städtischen Bewegung Território Livre. Im Hinblick auf die im Oktober stattfindenden Wahlen halten es viele für wahrscheinlich, dass der PT weiter versuchen wird, Unruhe auf der Straße um jeden Preis zu verhindern. Nach den Massenprotesten im vergangenen Jahr waren Rousseffs Popularitätswerte nämlich rekordverdächtig gefallen. Die konservative Presse diffamiert Protestierende derweil als »Krawallmacher und Chaoten«. So titelte die rechte Zeitschrift Veja »WM in Gefahr« und nannte Demonstranten in einem Atemzug mit Terroristen und dem organisierten Verbrechen.

Die Einschüchterung und die mediale Stigmatisierung verunsichern die Protestbewegung. Die jüngste Polizeigewalt löste keine Solidarisierung wie im Juni vergangenen Jahres aus. Damals kam es nach gewalttätigen Übergriffen zu Massenprotesten im ganzen Land. Die Demonstrationen sind zudem innerhalb der Linken nicht unumstritten. Viele kritisieren den Aktionismus und das Fehlen politischer Inhalte. Die Teilnehmerzahlen sinken auch, weil sich Basisorganisationen und Stadtteilgruppen kaum noch beteiligen. Sie organisieren unterdessen eigene Proteste und wehren sich auf vielfältige Weise gegen Verdrängung, Polizeigewalt und die Militarisierung ihres Alltags.
Den Anwohnern marginalisierter Stadtteile zufolge verstärkt sich die Diskriminierung von Armut durch den Sicherheitsdiskurs des näherrückenden Sportereignisses enorm. So kam es im Stadtteil Engenho Novo in der Nordzone Rio de Janeiros zu wütenden Protesten. Auslöser war die gewaltsame Räumung eines besetzten leerstehenden Geländes des Telefonanbieters Oi. Über 5 000 Menschen hatten seit Ende März dort ge­lebt. Bei Auseinandersetzungen mit der Polizei wurden mehrere Besetzer verletzt. Busse und Übertragungswagen von Fernsehstationen gingen daraufhin in Flammen auf. Bürgermeister Eduardo Paes will keine Ausweichquartiere bereitstellen, deshalb haben Hunderte obdachlose Familien ein Camp vor der Stadtverwaltung aufgeschlagen. »Wir bleiben hier, bis sie uns eine geeignete Alternative bereitstellen«, sagte Edi Santos, einer der Sprecher der Besetzerbewegung.
Das »Land des Fußballs« kommt nicht zur Ruhe. Korruptionsskandale, Unfälle auf den Baustellen und die Verschwendung von öffentlichen Geldern lassen mittlerweile viele am Nutzen der WM zweifeln. An den anfangs versprochenen Aufschwung glaubt kaum noch jemand. »Die WM wird die soziale Ungleichheit in diesen Land noch vergrößern«, meint Danilo Cajazeira vom Basiskomitee in São Paulo. In der Tat zeigte eine Studie zuletzt, dass nur noch 52 Prozent der Brasilianer die WM befürworten.
In dem fußballverrückten Land herrscht Skepsis statt Vorfreude. Dazu haben auch die Proteste beigetragen. Soziale Bewegungen und Gewerkschaften haben bereits Demonstrationen und Streiks für die Zeit der WM angekündigt. Die Aktivisten haben keinen Zweifel, dass gerade während des Sportereignisses Bürgerrechte hintanstehen werden. Aus diesem Grund bereiten sie sich auf eine Repressionswelle vor. Vor allem die Ärmsten wird die staatliche Willkür weiterhin mit aller Härte treffen. Denn sie sollen möglichst unsichtbar sein, wenn in weniger als zwei Monaten der Ball rollt und die Welt auf Brasilien blickt. Bereits vor der »Mega­party« stehen sie im Abseits.