Nadia ­Valavani im Gespräch über den Aufstand des 17. November vor 40 Jahren

»Barbarei hat einen Fälligkeitstag«

Vor 40 Jahren, am 14. November 1973, traten Studenten des Polytechnikums in Athen in den Proteststreik gegen die Militärdiktatur. Am vorigen Sonntag erinnerten in Athen 12 000 und in Thessaloniki 13 000 Menschen bei Demonstrationen an das Ereignis. Nadia Valavani war damals 19 Jahre alt und befand sich im Polytech­nikum, als am 17. November die Armee mit einem Panzer das Gebäude stürmte. Die heute 59jährige ist Abgeordnete der linken Partei Syriza, Wirtschaftswissenschaftlerin und Schriftstellerin. Sie erinnert sich an die Ereignisse damals und spricht über die heutige Situation im Griechenland.

Was ist Ihnen vom Studentenaufstand am 17. November 1973 am eindringlichsten in Erinnerung geblieben?
Es ist ein Ereignis, das nicht dokumentiert wurde. Am Freitag, dem 16. November, sind schon in der Frühe Schüler ins Polytechnikum gekommen, sie haben gesungen und gespielt. Als gegen 14 Uhr die Sache ernster wurde und der Koordinierungsausschuss die Leute, die den Ort verlassen wollten, aufrief, dies sofort zu tun, weil es nicht sicher wäre, ob sie es später noch schaffen würden, veränderte sich das Klima. Fast niemand aber hat den Ort verlassen. Auch nicht diese Kinder. Gegen 19, 20 Uhr abends, als das Polytechnikum immer weiter isoliert wurde und Scharfschützen auf Leute auf der Straße schossen, bildete sich auf dem Vorhof der Hochschule eine Menschenkette, um die Verletzten so schnell wie möglich in die Arztpraxis des Polytechnikums zu bringen. Diese Menschenkette war ausschließlich von Schülern gebildet. Und mitten in all diesem Chaos mit dem Gas und dem Feuer haben sie gesungen. Wenn ich mich an diese drei Tage erinnere, sind diese Schüler für mich das Repräsentativste vom Aufstand gegen die Militärjunta.
Immer wieder hört man heute bei Demonstrationen die alte Parole »Psomi, Paidia, Eleftheria« (Brot, Bildung, Freiheit). Wie zeitgemäß ist im Griechenland der Sparmemoranden diese Forderung?
Leider ist sie sehr zeitgemäß. Ich glaube, das verstehen nun alle. Unter Bedingungen einer sehr starken humanitären Krise, mit drei Millionen Menschen unter der Armutsgrenze und einem Bildungssystem, das zerstört wird, und Schulen, die geschlossen werden, werden auch demokra­tische Freiheiten und Rechte sehr stark eingeschränkt. Dies passiert, weil die von den Sparmemoranden diktierte Austeritätspolitik nicht ­demokratisch durchgesetzt werden kann.
Kann man die Situation damals mit der heutigen vergleichen?
Eine andere Parole, die oft bei den heutigen Demonstrationen skandiert wird, sagt, dass die Junta 1973 nicht zu Ende gegangen sei. Richtig ist, dass sie im Jahre 1974, nach dem Verrat an Zypern, zusammengebrochen ist. Meiner Meinung nach ist das, was wir heute erleben, keine Junta. Aber es gibt viele Ähnlichkeiten. Diese gewaltige neoliberale Rekonstruktion des Systems, die Sparpolitik und eine Europäische Union, die sich so verhält, als richte sie sich gegen ihre eigenen Bevölkerungen, schafft eine Situation, die unerträglich ist. Und früher oder später wird dies alles nicht nur in Griechenland, sondern auch im Rest Europas zusammenbrechen. Es ist halt so, dass die Geschichte es so gewollt hat, dass Griechenland das schwächste Glied ist. Von hier aus aber kann ein Wechsel beginnen, der die Entwicklung in ganz Europa beeinflusst.
Welche Erfahrung machen Sie innerhalb des griechischen Parlaments? Mehrmals hat die Regierung Entscheidungen mit Verordnungen durchgesetzt, wie bei der Schließung des öffentlichen Rundfunks ERT im Juni.
Es ist offensichtlich, dass die Bedeutung der Legislative immer geringer wird. Die Verordnungen sind eine sehr ernste Sache, und mit den neuesten Entwicklungen bei ERT sind wir mit einer neuen Frage konfrontiert worden: Was passiert, wenn eine Verordnung nicht vom Parlament ratifiziert wird? Und wir waren erstaunt, als wir herausfanden, dass auch, wenn die Verordnung am letzten Tag der 90tägigen verfassungsmäßigen Frist – bei ERT war es der 18. Oktober – nicht vom Parlament ratifiziert wird, die innerhalb dieses Zeitraums getroffenen Ministerialbeschlüsse nicht annulliert werden, wie es mit der Verordnung selbst passiert. Dies ist erschreckend. Es bedeutet praktisch, dass, wenn es eng für eine Regierung wird, wie es bei der jetzigen der Fall ist, sie alleine ­Gesetze erlassen kann, ohne das Parlament. Und auch nach der 90-Tage-Frist für die Verordnung wird sie die Entscheidung nicht dem Parlament überlassen. Dies ähnelt den Notverordnungen Ende der zwanziger Jahre in der Weimarer Republik, die den Weg für Adolf Hitler ebneten. Und er hat diese Gesetzgebung genutzt, als er an die Macht kam. Man brauchte das Parlament nicht mehr, es war überflüssig.
Gibt es Ihrer Meinung nach in Griechenland viele Menschen, die sich nach der Junta zurücksehnen? Immerhin erhalten die Neonazis von Chrysi Avgi Zustimmungswerte in Höhe zweistelliger Prozentzahlen, sogar nach dem Mord an den antifaschistischen Rapper Pavlos Fyssas und nach der Verhaftung hochrangiger Parteimitglieder. Wie erklären Sie dies?
In Griechenland hat es immer – in Zeiten des ehemaligem Diktators Ioannis Metaxas, aber vielleicht auch früher – einen ideologisch faschistischen Kern gegeben. Nach dem Sturz der Junta im Jahre 1974 hat er bei Wahlen immer sehr wenig Zustimmung gefunden, zwei bis drei Prozent, nie mehr. Chrysi Avgi, die nicht nur eine faschistische, sondern eine nazistische Partei ist, kam lange Zeit ebenfalls auf nicht mehr als ein Prozent. Doch sie war in der Lage, sich in den vergangenen zwei Jahren in der griechischen Gesellschaft zu verwurzeln, in Folge der Sparmemoranden. Sie wandte sich an die Bürger der unteren und mittleren Schichten, die bis dahin von den Parteien Nea Dimokratia und Pasok angesprochen worden waren. Diese Menschen waren keine Faschisten oder Nazis. Sie haben aber gelernt, ihre individuellen Probleme durch Klientelbeziehungen zu lösen. Plötzlich, durch die Krise, fühlten sie sich hilflos. Chrysi Avgi hat sich auch in einer besonderen Weise an die Kinder in Schulen der unteren Schichten gewandt. Diese Kinder kennen, wenn sie ihren Schulabschluss machen, nicht mal den Luxus auszuwandern. Die Jugendlichen, die heute auswandern, sind gut ausgebildetes technisches und wissenschaftliches Personal. Die Kinder in den Arbeitergegenden haben keine Perspektive. Und dort hat Chrysi Avgi effektiver eingegriffen als die Linke.
Kann man den Aufstieg von Chrysi Avgi ausschließlich mit der Krise erklären?
Nein. Der Sumpf des Sparmemorandums war zwar eine Hauptursache, aber es waren auch andere Dinge nötig, wie zum Beispiel die Unkenntnis der Geschichte. In unseren Schulen wird nicht die neueste Geschichte unterrichtet, man hört in der Zwischenkriegszeit auf. Das Wichtigste, was die Kinder aus der jüngsten Geschichte kennen, ist der Studentenaufstand – nicht die Geschichte über die Diktatur insgesamt, nur der Studentenaufstand, und dies, weil er durch die Gedenkfeiern verewigt wird. Es ist sehr wichtig, dass 40 Jahre danach diese Gedenkfeiern, die manche als Schnee von gestern bezeichnen, das Wissen in der jüngeren Generation reproduzieren, und zwar ein Wissen über den Aufstand – nicht über die Unterwerfung.
Welche Möglichkeiten haben die Jugendlichen Ihrer Meinung nach heute, ihre Rechte zu verteidigen beziehungsweise einzufordern?
Bevor wir die Generation des Polytechnikums genannt wurden, hatte meine Generation einen anderen Namen. Wie waren die Generation von Wembley, es war angeblich diese Generation, die in der Militärdiktatur aufgewachsen ist und kein anderes Interesse hatte als Fußball. Aber es ist halt so gekommen, dass die Wembley-Generation die Polytechnikum-Generation geworden ist. Ich glaube, dass die Jugendlichen unter schwierigen Bedingungen immer ihren Weg finden. Nie ist dieser Weg der gleiche, unser Weg kann sich nicht in dieser Form wiederholen. Aber früher oder später wird sich eine Lösung finden. Wenn es eng wird und die Barbarei herrscht, ist das etwas, das nicht auszuhalten ist, es ist etwas, das einen Fälligkeitstag hat. Ich möchte nicht die Regime, die Maßnahmen, die Politiken vergleichen. Ich erinnere Sie aber daran, dass das Hitler-Regime behauptete, dass es 1 000 Jahre dauern würde. Es hat dann aber nur zwölf Jahre geschafft.