Die italienische Immigrationsgesetzgebung

Friedhof Mittelmeer

Die Betroffenheit angesichts der Leichensäcke an der Mole von Lampedusa währte nur kurz. Die Geschichte der italienischen Immigrationsgesetzgebung erklärt die Scheinheiligkeit der politischen Debatte nach der Katastrophe.

In Villa Literno geht die Saison der Tomatenernte zu Ende. Weil immer häufiger rassistische Gruppen zur Jagd auf afrikanische Tagelöhner aufrufen, verstecken sich die Männer nach der Feld­arbeit in abgelegenen, leerstehenden Gehöften. Doch das notdürftig eingerichtete Pappkarton­lager bietet keinen Schutz, als sie mitten in der Nacht angegriffen werden. Einige der Erntearbeiter weigern sich, ihren ersparten Hungerlohn an das Überfallkommando herauszugeben. Daraufhin fallen Schüsse. Zwei Männer werden verletzt, einer verblutet vor Ort.
Heute wäre die Meldung eines tödlichen Überfalls auf Migranten kaum mehr als eine regionale Kurznachricht wert. Im August 1989 löste die Ermordung Jerry Masslos in Villa Literno, im Hinterland von Neapel, noch landesweit Entsetzen aus. Sie zerstörte die Illusion, die italienische Bevölkerung sei aufgrund der Diskriminierung, die ihre emigrierten Vorfahren erfahren hatten, immun gegen rassistische Gewaltausbrüche. Vielmehr zeigte sich, dass im Umgang mit den neu ankommenden Migranten aus afrikanischen Ländern rassistische Vorurteile der faschistischen Kolonialzeit wiederkehrten. Wenige Wochen nach dem Mord an Masslo fand in Rom die erste Demonstration gegen Rassismus statt, aus der die ersten italienischen antirassistischen Gruppen und Initiativen hervorgingen. Außerdem markiert Masslos Tod den Beginn der Immigrationsgesetzgebung in Italien.

In den achtziger Jahren war aus dem Auswanderungs- ein Einwanderungsland geworden. Doch noch galt ein im Kalten Krieg geschriebenes Asylrecht mit »geographischer Einschränkung« nur für osteuropäische Flüchtlinge. Der aus dem südafrikanischen Apartheid-Regime geflohene Masslo war, wie alle anderen afrikanischen Saisonarbeiter, nur geduldet und dadurch der Arbeitsausbeutung durch mafiöse Clans schutzlos ausgeliefert. Damit sich sein »Schicksal« nicht wiederhole, wurde im Februar 1990 die nach dem damaligen Justizminister Claudio Martelli benannte »Legge Martelli« verabschiedet. Das Gesetz weist ein Charak­teristikum auf, welche die italienische Immigrationsgesetzgebung bis heute prägen: Es entstand aus einer öffentlichen Aufwallung von Gefühlen, in einer von den Einheimischen als Notstand wahrgenommenen Situation.
Trotz aller Betroffenheitsbekundungen standen für den Sozialisten Martelli das Prinzip der öffentlichen Ordnung und die Notwendigkeit der Regulation mutmaßlicher »Einwanderungsströme« im Mittelpunkt. Zwar sollten zukünftig auch außereuropäische Flüchtlinge Asyl beantragen und bereits Angekommene ihren Status nachträglich legalisieren können, gleichzeitig aber wurde die Einwanderung grundsätzlich zeitlich beschränkt und an ökonomische Vorgaben geknüpft.
Auf Initiative einer Mitte-Links-Regierung wurde dieses erste Immigrationsgesetz 1998 überarbeitet. Die daraus hervorgehende »Legge Turco-Napolitano«, benannt nach der damaligen Sozialministerin Livia Turco und dem heutigen Staatspräsidenten, der seinerzeit Innenminister war, verbesserte einerseits die rechtliche Lage der bereits anerkannten Einwanderer, erschwerte aber andererseits die reguläre Einreise. Vor allem aber verschärften die beiden damaligen Linksdemokraten die Abschieberegelungen. Wer nicht unmittelbar zum Verlassen des Landes gezwungen werden konnte, sollte im Falle einer Gefährdung der öffentlichen Sicherheit zum »zwischenzeitlichen Aufenthalt« in sogenannte »Centri per la permanenza temporanea« (CPT) eingesperrt werden.
Als Silvio Berlusconi 2002 zum zweiten Mal die Regierung übernahm, war der Repressionsapparat also bereits installiert. Im Namen seiner beiden Koalitionspartner, Umberto Bossi von der rassistischen Separationspartei Lega Nord und Gianfranco Fini von der postfaschistischen Alle­anza Nazionale, wurde diese Politik in ihren Grundprinzipien nochmals verschärft und um einige Schikanen erweitert. Auf dem Höhepunkt einer medialen Hetzkampagne, in der die Regierung den Hass auf vermeintlich »kriminelle Ausländer« schürte, wurde 2009 als Ergänzung zur »Legge Bossi-Fini« der Straftatbestand der illegalen Einwanderung eingeführt. Damit wurde gleichzeitig eine EU-Richtlinie unterlaufen, die zwar die Ausweisung, nicht aber die Inhaftierung von »Illegalen« erlaubt. Denn seither werden Betroffene, die im Falle einer Verurteilung die vorgesehene Geldstrafe nicht aufbringen, zu »Straffälligen«, die bis zu 18 Monate in sogenannten »Identifikations- und Abschiebezentren« (CIE) festgehalten werden können.
Obwohl Menschenrechtsorganisationen und katholische Basisgruppen seit Jahren die humanitären und sanitären Zustände in den konstant überbelegten Einrichtungen anprangern und die Auflösung der CIE fordern, haben bisher alle Nachfolgeregierungen von Berlusconis Rechtskoalition das Abschieberegime aufrechterhalten. Auch der derzeitige Ministerpräsident Enrico Letta wollte bei seinem Amtsantritt im Frühjahr bezüglich ihrer Schließung »keine Versprechen« machen. Dagegen erneuerte er im Juli anlässlich ­eines Staatsbesuchs des libyschen Präsidenten Ali Zeidan in Rom die von seinen Vorgängern eingeführte Tradition bilateraler Abkommen. Gemeinsame Grenzpatrouillen und der Abfang von Schlepperbooten wurden darin zur außenpolitischen Priorität erklärt. Vorstöße der Integrationsministerin Cécile Kyenge, einen Runden Tisch zur Reform der Immigrationsgesetze einzuberufen, wurden nicht aufgegriffen. Der Versuch, mit einem Volksbegehren die Abschaffung des Bossi-Fini-Gesetzes zu erzwingen, scheiterte, weil während der Sommermonate weniger als ein Drittel der vorgeschriebenen Unterschriften gesammelt worden waren.

Vor diesem Hintergrund offenbaren sich Zynismus und Scheinheiligkeit der Diskussionen, die seit der Flüchtlingskatastrophe von Lampedusa in Italien geführt werden. Anders als vor 20 Jahren, als die Ermordung Masslos noch antirassistischen Widerstand mobilisierte, währte die Betroffenheit selbst angesichts der langen Reihe von Leichensäcken an der Mole von Lampedusa nur kurz. Letta deutete bei seinem Besuch vor den in einer Flughafenhalle aufgereihten Särgen einen Kniefall an und versprach den mittlerweile mehr als 360 geborgenen Toten ein Staatsbegräbnis, doch noch ist unklar, wo sie überhaupt begraben werden können. Während täglich weitere Leichen aus dem Meer vor Lampedusa gefischt werden, gab es weitere Tote. Am Freitagabend kenterte ein Boot mit mehr als 200 Menschen zwischen Lampedusa und Malta, mindestens 35 Menschen starben. Überlebende berichteten einer maltesischen Zeitung, das libysche Miltär sei ihnen gefolgt, habe das Feuer auf das Boot eröffnet und zwei Insassen getötet. Und während die ersten Särge der Toten vom 3. Oktober nach Sizilien verschifft wurden, erreichten in der Nacht zu Montag 137 weitere, diesmal glücklicherweise lebende Flüchtlinge Lampedusa.
Die überlebenden Schiffbrüchigen hausen derweil seit zwei Wochen unter improvisierten Zeltdächern auf alten Schaumgummimatratzen. Aus Empörung darüber, dass sie noch nicht menschenwürdig untergebracht, aber bereits wegen illegaler Einwanderung angeklagt wurden, initiierte die linksliberale Tageszeitung La Repubblica eine vor allem von Intellektuellen und Künstlern unterstützte Petition gegen den »Skandal« des Bossi-Fini-Gesetzes. Die Formulierung ist allerdings so vage, dass unklar bleibt, ob nur der Straftatbestand der illegalen Einwanderung oder das Einwanderungsgesetz insgesamt aufgehoben werden soll. Beides hätte zwar positive Folgen für die bereits in Italien lebenden Migrantinnen und Migranten, mit der Einführung eines für die Bootsflüchtlinge lebensrettenden humanitären Korridors – wie von einigen NGOs gefordert – oder eines sicheren Asylwesens, das es den Flüchtenden erlauben würde, in den diplomatischen Botschaften vor Ort Aufnahmeanträge zu stellen, haben diese Vorschläge dagegen nichts zu tun. An der Verschleierung dieses Unterschieds sind alle politischen Fraktionen interessiert. Die zivilgesellschaftlich Engagierten können mit einer Unterschrift, die die Politik der Festung Europa nicht grundsätzlich in Frage stellt, ihr Gewissen beruhigen, während umgekehrt die Rechtspopulisten das Schreckgespenst einer »Flüchtlingsinvasion« heraufbeschwören können.
Als vergangene Woche der Antrag zur Vorlage einer entsprechenden Gesetzesänderung im Senat überraschend eine Mehrheit fand, wurden die beiden Senatoren des Movimento 5 Stelle (M5S), die den Antrag eingebracht hatten, von ihren Vorsitzenden, Beppe Grillo und Gianroberto Casaleggio, umgehend zurechtgewiesen. Auf Grillos Blog stellten sie klar, dass die Abschaffung des Straftatbestands illegaler Einwanderung keinesfalls zum Programm des M5S gehöre. In unmissverständlich rechtsextremer Diktion wurde die Suggestivfrage gestellt, wie viele clandestini Italien wohl aufnehmen könne, wo doch jeder achte Italiener schon nichts zu essen habe. Grillo kennt die rassistischen Ressentiments, die sein Publikum mehrheitlich hegt. Zwei Jahrzehnte repressive Immigrationspolitik haben in der italienischen Gesellschaft ihre Spuren hinterlassen.
Dieser Einsicht scheint auch der Demokrat Letta zu folgen, wenn er in Übereinstimmung mit seinem Innenminister Angelino Alfano, der in der großen Koalition die Rechtspartei PDL vertritt, die Bewältigung des »Flüchtlingsproblems« nun vor allem Europa übertragen möchte. Dabei macht der Beschluss des Europäischen Parlaments, zusätzlich zur Grenzschutzagentur Frontex noch das neue Überwachungssystem Eurosur einzurichten, deutlich, dass die europäische Flüchtlingspolitik nach dem Muster der italienischen Repres­sionspolitik erfolgt und weniger an der Rettung als vielmehr an der Abwehr von Flüchtlingsbooten interessiert ist.
Auf Lampedusa wissen die Bewohner, dass durch die weitere Aufrüstung des Mittelmeers mit Überwachungssatelliten und Aufklärungsdrohnen neue »Flüchtlingstragödien« nicht vermieden und die Aufnahmebedingungen für die­jenigen, die das Glück haben, die Überfahrt zu überleben, durch Militärmissionen nicht verbessert werden. Deshalb sollte die Insel den Friedensnobelpreis ablehnen, wenn er ihr eines Tages, wie von einer zweiten Unterschriftenaktion eingefordert, tatsächlich verliehen werden sollte. Weder Italien noch Europa sollten eine Gelegenheit erhalten werden, von ihrer menschenverachtenden Abschottungspolitik abzulenken.