Antonio Rodríguez im Gespräch über ein Friedenabkommen des Staats mit den Banden in El Salvador

»Ein Kniefall vor der Mafia«

Vergangene Woche unterzeichneten Anführer der größten zentralamerikanischen maras (Banden), Mara Salvatrucha 13 und Barrio 18, in Honduras ein Friedensabkommen. In El Salvador gibt es ein derartiges Abkommen bereits seit Juli 2012. Vor über einem Jahr hat die dortige Regierung mit Vertretern von der Mara Salvatrucha 13 und Barrio 18 Friedensverhandlungen aufgenommen. Die Anzahl der Morde ist seit dem Pakt Statistiken der Regierung zufolge von 15 auf fünf pro Tag gesunken. Der spanische Pater Antonio Rodríguez, der seit mehr als einer Dekade Friedens-, Präventions- und Rehabilitationsarbeit im armeen Stadtteil Mejicanos in San Salvador betreibt, übt jedoch öffentlich Kritik an dem Abkommen. Im vergangenen Jahr erhielt er deswegen mehrfach Morddrohungen. Mit ihm sprach die Jungle World über die problematischen Aspekte dieses Waffenstillstands.

El Salvador, eines der gewalttätigsten Länder Lateinamerikas, hat die obersten Ränge der Mordstatistiken verlassen. Warum überzeugt Sie der Frieden dennoch nicht?
Es ist ein Frieden mit der Mafia. Ein Frieden ohne Bestand. Die Jugendbanden schwören nicht der Gewalt ab – sie gehen lediglich strategische Bündnisse ein. Sie wollen sich nicht auflösen, nicht zurückziehen. Vielleicht werden sie Territorien und Einkommensquellen ändern, aber nicht ihre kriminellen Strukturen. Ihre Bosse, die im Gefängnis sitzen, verhandeln über weniger Tote auf den Straßen, um mehr Besuchszeiten und Annehmlichkeiten im Knast zu bekommen. Es ist ein zynischer Handel um Leichen – ohne Respekt für das Leben an sich.
Die Angehörigen der Banden galten bisher als Vogelfreie in El Salvador.
Nun werden sie von Vertretern der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) angehört. Damit wird ihnen fatalerweise politische Macht zugesprochen. Diese Macht können sie nur mit einem begründen: der Erzeugung von Angst durch Brutalität und Willkürherrschaft in den Armenvierteln. Die Banden damit als politische Akteure anzuerkennen und sich mit ihnen an einen Tisch zu setzen – das ist ein Kniefall vor der Mafia.
Aber könnten die Friedensverhandlungen nicht auch eine Ausstiegschance für Bandenmitglieder sein?
Kaum, denn der Waffenstillstand festigt die hierarchischen Strukturen der Banden. Auf die Bosse im Gefängnis sind nun die Kameras gerichtet: El Viejo Lin spricht für den Flügel der Sureños und Duke für den der Revolucionarios der Barrio 18; der Diablito de Hollywood für die Mara Salvatrucha 13. Sie sind die Wortführer. Wer draußen ihre Befehle nicht ausführt, stirbt. Ein Ausstieg ist für die »einfachen Soldaten«, wie diese sich selbst nennen, nicht möglich.
Von Seiten der Regierung und auch der Privatwirtschaft wird das Thema Ausstieg jedoch seit Neuestem in die Verhandlungen einbezogen.
Wenn der Waffenstillstand Bestand haben soll, dann muss die Möglichkeit der Rehabilitation unbedingt diskutiert werden. Dafür braucht es aber nicht nur Arbeitsplätze, wie die Regierung sie halbherzig verspricht. Eine umfassende psychologische Betreuung ist vonnöten und die aktive Reintegration von Bandenmitgliedern in die Gesellschaft, ein Alltagsleben abseits der Gewalt. Das ist aber gar nicht Ziel der Verhandlungen.
Was sind Ihrer Meinung nach die Ziele?
Der Waffenstillstand ist eine politische Strategie, die unterschiedliche Interessen bedient. Präsident Mauricio Funes und die Regierung der ehemaligen Guerilla FMLN können der Bevölkerung darlegen, dass sie erfolgreich für öffentliche Sicherheit sorgen. Die Banden, vormals von der Gesellschaft ausgeschlossen, sitzen nun als politischer Akteur am Verhandlungstisch. Und der Drogenhandel ist zurück in der Regierung.
Sie vermuten die organisierte Kriminalität des Drogenhandels hinter den Verhandlungen?
Ich glaube, dass der Waffenstillstand letztlich eine Strategie der Narcos ist. Sie sind eng mit der ultrarechten Partei Arena verknüpft, die 20 Jahre lang das Land regierte. Als Arena vor vier Jahren die Regierung an die Linke verlor, verlor auch der Drogenhandel diesen Einflussbereich. Er musste neue Strategien entwickeln. Eine davon war, die Straßen mit Toten zu pflastern, um Macht zu demonstrieren – und folglich über den Eintritt in die Regierung verhandeln zu können. Dafür bedient sich der Drogenhandel der Jugendbanden, die als Auftragsmörder fungieren.
Offiziell führen ein Militärbischof und ein ehemaliger Abgeordneter der Regierungspartei FMLN die Verhandlungen.
Fabio Colindres und Raúl Mijango geben ihr Gesicht für den Waffenstillstand her. Beide stehen dem Sicherheitsminister David Munguía Payés nahe. Er ist ein ehemaliger General, der, wie andere Militärangehörige, Ende 2011 überraschend von Funes in die Regierung berufen wurde, und ist tatsächlich der führende Kopf hinter den Verhandlungen. Colindres spielt jedoch als Bischof eine unerlässliche Rolle für die Akzeptanz des Waffenstillstandes in der Bevölkerung. Nur die Kirche kann in einem religiösen Land wie El Salvador die Massen hinter die Regierungspolitik bringen. Offiziell schweigt die katholische Kirche aber zu den Verhandlungen. Colindres agiert letztlich als Einzelperson, nicht als Kirchengesandter.
Abgesehen von möglichen Akteuren hinter dem Waffenstillstand – sprechen die Fakten nicht für sich? Die vormals horrende Anzahl der Morde in El Salvador ist drastisch zurückgegangen.
Die Menschen fühlen sich durch den Waffenstillstand letztlich nicht sicherer als zuvor. Sie haben Angst in ihrem eigenen Land. Nicht die Situation in den Armenvierteln, sondern die Statistiken haben sich geändert. Angehörige der bis aufs Blut verfeindeten Banden bringen sich gegenseitig nicht mehr zu Hunderten um, sondern respektieren ihre Territorien. Davon abgesehen führen sie wie gehabt Schutzgelderpressungen durch. Wer nicht zahlen kann oder will, der stirbt.
Woran machen Sie das fest?
Die Migration Richtung Norden, in die USA, spricht Bände. Menschen fliehen nicht mehr in erster Linie vor Hunger, Armut und Chancenlosigkeit, sondern vor Gewalt. Heute migrieren nicht mehr nur die Ärmsten der Armen. Eine Unter- und Mittelschicht verlässt das Land, die ihren Lebensunterhalt bislang erfolgreich bestreiten konnte. Mit den horrenden Abgaben an die Banden wurde das unmöglich. Davon sind nicht nur Besitzer und Besitzerinnen kleiner Geschäfte und Straßenstände betroffen, sondern mittlerweile sämtliche Bewohner bestimmter Gegenden. Ganze Viertel sind verlassen, nur noch Familienangehörige der Banden leben dort.
Das bedeutet, die maras können auf soziale Netzwerke zurückgreifen?
Mittlerweile leben ganze Familien von den kriminellen Machenschaften der Banden. Es gibt schätzungsweise 35 000 Bandenmitglieder, aber insgesamt wahrscheinlich 100 000 Menschen, die von ihren illegalen Einkünften profitieren. Diesen muss eine Alternative zur Armut geboten werden, wenn sich grundlegend etwas ändern soll. In El Salvador braucht es einen Sozialstaat, der in Bildung, Jugendliche und Kinder investiert. Eine Sozialpolitik zu schaffen, die Menschen in die Gesellschaft und den Arbeitsmarkt integriert, sehe ich weiterhin als nachhaltige Lösung des Problems der Jugendbanden. Sie sind als Symptom sozialer Missstände zu begreifen, nicht als Problem der inneren Sicherheit.
Einzig zivilgesellschaftliche Organisationen versuchen sich in der Gewaltprävention. Ist das ein Tropfen auf den heißen Stein?
Ein Tropfen auf einen glühend heißen Stein. Wir leisten Friedensarbeit in den von Gewalt betroffenen Vierteln, denn Gewalt ist etwas sehr viel Komplexeres, als Mordzahlen veranschaulichen können. Eine Kultur des Friedens schließt alle dort lebenden Menschen mit ein: Frauen, Männer, Alte, Kinder, Bandenmitglieder. Als marginalisierte Bevölkerung sind letztlich alle verletzlich in ihren Rechten. Wir geben Jugendlichen Möglichkeiten der Partizipation, Orientierung und Bildung. Niemand hat sie je gefragt, was sie aus ihrem Leben machen wollen. Diejenigen, die sich uns annähern, vollziehen eine Wende um 180 Grad und wählen ein Leben abseits von Gewalt und Kriminalität. Es gibt fast keine Rückfälle, weil sie als Menschen einen inneren Wandel vollzogen haben. Sie kennen ihre Rechte und respektieren die anderer.
Sehen Sie Bandenangehörige somit eher als Opfer denn als Täter?
Sie sind beides. Jugendliche gehen nicht in die Banden, weil sie so viel kriminelle Energie besitzen, sondern weil sie aufgrund untragbarer Situationen von Missbrauch und Gewalt in den Familien ihr Zuhause verlassen haben und auf der Straße leben. Weil sie in bedrückender Armut aufwachsen und weder Zugang zu Ausbildung noch Arbeit haben. Die Banden werden als Quelle der Gewalt im Land begriffen. Tatsächlich sind sie jedoch ein Auswuchs der strukturellen Gewalt – kein Feind, mit dem es gilt, Friedensverhandlungen zu führen. Diese Lösung greift zu kurz.
Dennoch haben Sie vor zwei Jahren selbst solche Verhandlungen angestoßen – und wurden daraufhin von Präsident Funes von einer Regierungskommission ausgeschlossen. Worin hat sich Ihr Ansatz von den heutigen Verhandlungen unterschieden?
Ich habe einen Dialog mit der gesamten Zivilgesellschaft angestrebt, absolut transparent und vollkommen offen lassend, wohin dieser führen könnte. Keine geschlossenen Verhandlungen, wie wir sie nun haben, mit so vielen Unbekannten an Themen, Vorgehen, Akteuren.
Werden die im Umfeld der Banden arbeitenden Nichtregierungsorganisationen in den gegenwärtigen Prozess einbezogen?
Noch nicht einmal als Beobachter. Wir arbeiten weiterhin gegen den Strom, gegen die herrschende Meinung und den Justiz- und Polizeiapparat. Denn die Jugendbanden waren immer ein Politikum. Die rechten Vorgängerregierungen haben eine populistische Politik der harten Hand etabliert. Diese repressiven Maßnahmen dienten jedoch nie dazu, das Problem der Gewalt zu lösen, sondern vielmehr dazu, mit der Konstruktion eines Feindes von verheerenden sozialen Missständen abzulenken. Die Gesellschaft hat infolge dessen ihre eigene Jugend ausgeschlossen und sie als Kriminelle gebrandmarkt.
In knapp einem Jahr werden in El Salvador Wahlen stattfinden. Welche Zukunft hat der unter der Regierung Funes begonnene Friedensprozess?
Der Waffenstillstand wird von kommenden Regierungen weitergeführt werden. Diese haben moralisch gar nicht mehr die Möglichkeit, ihn aufzulösen. Ein Friedensprozess hat eine hohe Symbolkraft in einem Land, in dem ein Bürgerkrieg durch ein Friedensabkommen beendet wurde. Andererseits müssen sich künftige Regierungen auch der Konsequenzen eines Bruchs der Waffenruhe bewusst sein. Dieser würde nicht nur mit den Banden, sondern auch mit dem Drogenhandel erfolgen. Das käme einer offenen Kriegserklärung gleich. Dann hätten wir hier mexikanische Verhältnisse.