Das Steuerkonzept der Grünen

Umverteilt wird nicht

Als Regierungspartei waren die Grünen unter Gerhard Schröder an der gigantischen steuerlichen Entlastung von Vermögenden und Unternehmen beteiligt. Mit dem Steuerkonzept, das auf ihrem Parteitag verabschiedet wurde, versuchen sie nun, ihre Verantwortung für die soziale Ungerechtigkeit zu kaschieren.

Bonn im Jahr 1987. An einem Februartag trifft sich bei Helmut Kohl im Bundeskanzleramt ein Kreis von gediegenen Herren. Sie streiten über den Spitzensteuersatz. »Unsere Zahl heißt 48 Prozent«, sagt Otto Graf Lambsdorff (FDP). Der Christdemokrat Heiner Geißler will, dass alles so bleibt, wie es ist: bei 56 Prozent. Es wird hart verhandelt. Schließlich wirft jemand den Vorschlag 53 Prozent in den Raum. Und so wird es kommen. 1989 senkt die schwarz-gelbe Bundesregierung den Spitzensteuersatz auf dieses Niveau. Der damalige Bundesfinanzminister Gerhard Stoltenberg (CDU) hatte sich für 55 Prozent eingesetzt. Nach den Maßstäben der heutigen konservativen Meinungsführer stünden die liberal-konservativen Herren allesamt unter dringenden Kommunismusverdacht.

Was Otto Graf Lambsdorff nicht zu träumen gewagt hatte: Heute liegt der Spitzensteuersatz bei 42 Prozent. Rot-Grün sei Dank. Doch als hätten sie nie etwas mit der gigantischen Entlastung von Vermögenden und Unternehmen zu tun gehabt, stellen sich ausgerechnet die Grünen jetzt als Partei der Steuergerechtigkeit dar. »Der private Reichtum der oberen zehn Prozent ist extrem stark angestiegen, die öffentliche Hand aber ist hoch verschuldet«, sagt der Grünen-Spitzenkandidat Jürgen Trittin – der als Regierungsmitglied unter Gerhard Schröder selbst daran beteiligt war, diese Entwicklung herbeizuführen. Das beim Parteitag Ende April verabschiedete Steuerkonzept der Grünen kaschiert ihre Verantwortung für die Umverteilung. »Linker als links« kommentiert die Frankfurter Allgemeine Zeitung die Pläne. Von einem »beispiellosen Steuererhöhungsprogramm« spricht Spiegel Online. Die Kernbotschaft der Grünen lautet, wer mehr als 60 000 Euro im Jahr verdiene, solle künftig mehr Steuern zahlen. Ein angehobener Spitzensteuersatz von 49 Prozent soll ab einem Einkommen von jährlich 80 000 Euro fällig sein.
Statt einer Vermögenssteuer, deren Wiedereinführung die SPD und die Linkspartei fordern, wollen die Grünen eine begrenzte Vermögensabgabe einführen. Sie soll zehn Jahre laufen. Fällig wird sie für Privatpersonen ab einem Vermögen von einer Million Euro, für Betriebe ab 5 Millionen Euro. Für die Beträge, die über diesen Freigrenzen liegen, sollen 1,5 Prozent an den Fiskus abgeführt werden. Die zehn Milliarden Euro, die der Staat auf diesem Weg einnehmen soll, wollen die Grünen ausschließlich in die Staatsschuldentilgung stecken. Das Geld aus der Vermögensabgabe soll also ausdrücklich nicht zur Finanzierung von Sozialleistungen, Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen oder Armutsbeseitigung verwendet werden.

Auf der anderen Seite verkaufen die Grünen ihr Steuerprogramm als Entlastung der Mittelschicht. »Wir entlasten alle Bürger, die unter 60 000 Euro verdienen«, sagt Trittin. Unter Mittelschicht verstehen sie Ledige, die zwischen 18 000 Euro und 48 000 Euro im Jahr verdienen, und Familien mit 32 000 Euro bis 80 000 Euro Jahreseinkommen. Nach Berechnungen der Grünen würde die Belastung nur für jene zehn Prozent der Haushalte steigen, die am meisten verdienen. Die wirtschaftsliberalen Kritiker bestreiten das vehement und behaupten, die breite Mittelschicht wäre betroffen. Sie übertreiben dabei maßlos. »Raubzug mit Ansage«, nennt der Spiegel die Pläne. »Der neue Feind der Wirtschaft« überschreibt das Handelsblatt einen Text über Trittin und seine Partei. »Das giftige Gemisch der Grünen«, heißt es in der Wirtschaftswoche. In Talkshows diskutieren die üblichen Verdächtigen fast täglich über die Pläne der Grünen.
Ein »Jobkiller« sei das Programm, sagte der Präsident des Deutschen Industrie- und Handelstags, Eric Schweitzer, über die Steuerpläne. Sie würden Hunderttausende Arbeitsplätze vernichten. Die Grünen können sich über diese Angriffe im Wahlkampf freuen. Sie sind im Gespräch, haben viel Raum, um ihr Vorhaben darzustellen, und können sich als soziale Partei profilieren. »Warum der grüne Umverteilungskurs nicht ankommt – Die traurige Legende von Robin Hood«, heißt es bei N-TV. Der scheinbare Umverteilungskurs kommt aber durchaus an. Viele Menschen finden die Idee höherer Abgaben für Wohlhabende gut. In der wöchentlichen Forsa-Umfrage legten die Grünen bei der Sonntagsfrage um einen Prozentpunkt auf 15 Prozent zu. Jenseits aller Parteipräferenzen fanden zwei Drittel der von den Meinungsforschern Befragten die Erhöhung des Spitzensteuersatzes für Einkommen über 80 000 Euro auf 49 Prozent gut. Jeder zweite, der mehr als 3 000 Euro netto im Monat verdient, begrüßt die Pläne.
Von den gesamten Mitteln, die die Steuerreform einbringen würde, sind 40 Prozent für Bildungs- und Betreuungsangebote gedacht, 25 Prozent für den Schuldenabbau und 20 Prozent für gerechtere Sozialleistungen. Diese Verteilung zeigt den geringen Stellenwert, den die gerechtere Einkommensverteilung bei den Grünen hat. Zu den Sozialleistungen, die mit der Steuerreform finanziert werden sollen, gehören ein »verfassungsfester ALG-II-Satz«, also eine Korrektur von Hartz IV, und eine Garantierente als Schutz vor Altersarmut. Das ist ein wirklich schlechter Witz: Aufgrund rot-grüner »Sozialreformen« leben viele Menschen mit dem völlig unzureichenden ALG II und noch sehr viel mehr Menschen – und den meisten ist das nicht klar – sehen aufgrund der von Rot-Grün initiierten Kürzung künftiger Rentenansprüche der finanziellen Verelendung im Alter entgegen. Das ist das Ergebnis zweier zentraler Projekte der rot-grünen Regierung unter Gerhard Schröder. Diese politischen Fehler über eine Steuerreform mildern zu wollen, ist nicht einmal eine Placebo-Korrektur. Ohnehin meinen die Grünen es mit dem Sozialen nicht ganz so ernst: »Die Erfahrung lässt vermuten, dass den Grünen die Solarpaneele auf den Dächern wichtiger sind als die Hartz-IV-Bezüge«, kommentiert Ulrike Winkelmann in der Taz.

Steuerschätzer gehen davon aus, dass in Deutschland auf allen Ebenen zusammen im Jahr 2013 rund 615 Milliarden Euro an Steuern eingenommen werden, so viel wie nie zuvor. Etwa ein Drittel der Steuern stammt aus der Einkommenssteuer, ein weiteres aus der Umsatzsteuer. Die beiden Blöcke sind die mit großem Abstand wichtigsten für die finanzielle Lage des Staates. Aufgrund von Tarifsenkungen ist der Anteil der Einkommenssteuer am Gesamtsteueraufkommen über viele Jahre gesunken. Dagegen ist der Anteil der Umsatz- und Mehrwertsteuer gestiegen. Sie wird bei fast jedem Kauf und fast jeder Inanspruchnahme von Dienstleistungen fällig und trifft die Armen stärker, weil sie weniger haben als die Reichen. Diese Entwicklung ist vor allem der SPD, aber auch den Grünen anzulasten. Die beiden Parteien haben in ihrer gemeinsamen Regierungszeit vermögende Privatpersonen und Unternehmen systematisch entlastet. Sie haben den Spitzensteuersatz stark gesenkt und wollen ihn jetzt nicht einmal auf das Niveau heben, auf das er unter Kanzler Helmut Kohl gesenkt wurde – 53 Prozent. Zu diesem Wert will nur die Linkspartei zurück, laut Handelsblatt ein »Albtraum für Reiche und Erben«. Zwischen 1975 und 1989 lag der Spitzensteuersatz in Westdeutschland bei 56 Prozent – angehoben von der sozialliberalen Regierung. Die Forderung, dahin zurückzukehren, existiert in der bundesdeutschen Politik schlicht nicht.

Von weitergehenden Forderungen oder dem Ruf nach einer grundlegenden, an Umverteilung interessierten Steuerreform lenkt die Debatte über die Pläne der Öko-Partei bestens ab. So manchen Wähler, der wegen der sozialen Frage mit der Linkspartei sympathisiert, mag der aggressive Ton mancher Medien zu den Grünen treiben. Zugleich wird die urgrüne, besserverdienende Klientel mit der Debatte gut bedient. Zu Recht sieht die Taz-Redakteurin Winkelmann das Kalkül des Steuerprogramms in der Botschaft an die Anhänger: »Fühlt euch geschmeichelt, dass wir euch für so altruistisch halten. Aber bleibt ganz ruhig: So dicke kommt es dann wohl doch nicht.« Zumal der SPD-Kanzlerkandidat Peer Steinbrück die Pläne der Grünen bereits abgekanzelt und seiner Partei geraten hat, bei ihrem »abgewogenen Steuerkonzept« zu bleiben. Dass Parteien nach der Wahl das Gegenteil von dem tun, was sie vorher angekündigt haben, hat gerade in der Steuerpolitik fast schon Tradition. Unvergessen ist der Kampf der SPD 2005 gegen die von der damaligen Kanzlerkandidatin Angela Merkel (CDU) angekündigte Erhöhung der Mehrwertsteuer um zwei Prozentpunkte. Von der Spitze bis zu den Fußtruppen empörten sich die Sozialdemokraten über die »Merkelsteuer«. Um dann als Teil der Großen Koalition die Mehrwertsteuer sogar um drei Prozentpunkte auf 19 Prozent anzuheben  – drei Prozentpunkte entsprechen 23 Milliarden Euro im Jahr, die von Armen und wie Reichen gleichermaßen aufgebracht werden. Der damalige SPD-Vorsitzende Franz Müntefering fand nichts dabei. Kritikern entgegnete er kühl, es sei unfair, die Regierung an dem zu messen, »was im Wahlkampf gesagt worden ist«.