In Ägypten droht ein Staatsstreich

Mursi murkst rum

Erst wird der ägyptische Präsident Mohammed Mursi als Vermittler im Nahost-Konflikt gefeiert, dann versieht er sich mit umfangreichen Vollmachten. Doch gegen seinen kalten Putsch wird in Ägypten heftig protestiert.

Es war eine große Siegesfeier. Nach der Verkündung des Waffenstillstands zwischen der israelischen Armee und der Hamas wurde im Gaza-Streifen die nationale Eintracht beschworen, zwischen den Hamas-Flaggen durfte mit Fatah-Fähnchen gewedelt werden. Am Wochenende hatten sich die mit der Fatah verbundenen al-Aqsa-Märtyrerbrigaden in Gaza dafür gerühmt, ebenfalls Hunderte Raketen auf Israel abgefeuert zu haben. Ein Funktionär der Hamas erklärte den Jubilierenden, die beiden Gruppen seien nun wie eine Hand, ein Gewehr und eine Rakete. Die Gesundheitsbehörden baten aber darum, nicht weiter mit Kalaschnikows in die Luft zu schießen. Diese Art der Freudenbekundung hatte bereits einen Toten und mehrere Verletzte verursacht.
Der selbsterklärte Sieg der Hamas war vor allem ihrer neuen Schutzmacht Ägypten zu verdanken. Sieger war zunächst der ägyptische Präsident Mohammed Mursi, der sich plötzlich in jener Nahost-Vermittlerrolle profiliert hatte, die Recep Tayyip Erdoğan immer hatte spielen wollen. Dem türkischen Ministerpräsidenten blieb nur ein wenig glamouröses und inhaltsleeres Treffen mit dem iranischen Parlamentspräsidenten, Ali Larijani, der schnell zu einer kurzen Nahost-Reise zu den angeschlagenen Verbündeten Bashar al-Assad und Hizbollah aufgebrochen war, damit die Islamische Republik Iran wenigstens daran erinnern konnte, dass es sie auch noch gibt.

Mursi als neuer Vermittler in der Nahost-Politik hat die Verantwortung für einen Prozess übernommen, den er kaum kontrollieren kann. Die schnell erlassene Fatwa eines Geistlichen aus Gaza weist auf die Zwänge hin, denen sich die Hamas und Ägypten unterworfen haben. Dem Dekret zufolge sei es sündhaft, den Waffenstillstand zu brechen, der »von unseren ägyptischen Brüdern unterstützt wird«. Dieses religiöse Rechtsgutachten dürfte als Warnung und ideologische Absicherung dienen, falls die Hamas gegen Gruppen vorgehen will, die sich noch islamistischer als sie selbst geben und gar nicht mit dem Erzfeind Israel verhandeln wollen.
Letztlich trat der Waffenstillstand so schnell in Kraft, dass sich in Israel Umfragen zufolge sogar etwas wie eine Katerstimmung verbreitete und das Gefühl, der Hamas gegenüber mit dem Verzicht auf eine Bodenoffensive zu schnell nach­gegeben zu haben. Es war der scheidende israelische Verteidigungsminister Ehud Barak, der angesichts der Stimmung unter Israels Rechten die ganze Angelegenheit etwas derb, aber treffend auf den Punkt brachte: Die Hamas habe es geschafft, insgesamt eine Tonne Sprengstoff in die Bevölkerungszentren Israels zu schießen, die Israelis hätten Gaza mit 1 000 Tonnen getroffen. Das Waffenstillstandsabkommen sei eine »Papierbrücke für die Besiegten«, damit die Hamas ihrem Publikum erklären könne, warum sie sich überhaupt noch traue aufzusehen, nach den ganzen Treffern, die sie eine Woche lang habe einstecken müssen.
Mursi aber war der Star der ganzen Veranstaltung. US-Außenministerin Hillary Clinton pries umgehend seine Führungsqualitäten, Ägyptens neue Regierung habe die Verantwortung angenommen, »die aus dem Land für lange Zeit einen Eckstein des Friedens und regionaler Stabilität« gemacht habe. Die Lobreden auf Mursi hatten gerade erst ihren Weg in die Medien gefunden, als er ein Dekret erließ, das ihm von der Justiz nicht zu kontrollierende Vollmachten verleiht. Mursi berief sich also selbst zum Führerpräsidenten. Dieses Politikmodell hat seit dem »arabischen Frühling« in der öffentlichen Meinung jedoch an Popularität verloren. Mohammed al-Baradei, einer von Mursis ehemaligen Mitbewerbern ums Präsidentenamt, verbreitete umgehend via Twitter das eingängige – und zumal für Muslimbrüder sehr negativ konnotierte – Schlagwort von »Ägyptens neuem Pharao«.

Wenn Mursi, um diesen kalten Putsch abzusichern, auf die Demonstrationsmüdigkeit der Ägypter spekuliert hatte sowie auf seine neue Rolle als Lieblingsgarant des Westens für Stabilität im Nahen Osten, dann war die erste Annahme falsch, die zweite nicht ganz. Die USA schwiegen zunächst beharrlich, die Vertreterin der EU für Außen- und Sicherheitspolitik, Catherine Ashton, mahnte ein wenig im Namen der Europäer, die UN-Menschenrechtsbeauftragte Navi Pillay sagte auch etwas zum Rechtsstaat in Ägypten. Schließlich drückte das US-amerikanische Außenministerium doch seine »Besorgnis« aus, und es waren mehr warnende Worte zu vernehmen, als deutlich wurde, dass Mursi mit seiner Selbstermächtigung Ägypten an den Rand einer Krise mit unabsehbaren Folgen geführt hatte. In Kairo beflügelte das Dekret des Präsidenten die bereits seit einer Woche stattfindenden Demonstrationen, der Tahrir-Platz wurde erneut zum Sammelpunkt. Nach Zusammenstößen zwischen gegen Mursi Demonstrierenden und Muslimbrüdern in anderen Städten des Landes gingen sogar Parteizentralen der regierenden Freiheits- und Gerechtigkeitspartei der Muslimbruderschaft in Flammen auf. Die Richterschaft beschloss zu streiken, der umstrittene, noch unter Hosni Mubarak tätige Generalstaatsanwalt, den Mursi jüngst vergeblich hatte loswerden wollen, wurde gleich nach Verkündung des Dekrets seines Amtes enthoben. Es war offensichtlich, dass Mursi seine neue Macht auch praktisch anwenden wollte.
Bei alledem beteuerte der ägyptische Präsident jedoch, seine neuen unbeschränkten Machtbefugnisse sollten bloß den revolutionären Prozess vollenden helfen. Der ist tatsächlich ins Stocken geraten, was aber vor allem an den dominanten Muslimbrüdern und den Salafisten selbst liegt. Sie sind in der verfassungsgebenden Versammlung nach dem demonstrativen Auszug von allen nicht islamistischen Gruppen und Parteien ganz unter sich und basteln an einer Verfassung gemäß der Sharia. Seit Wochen ist unklar, ob das Oberste Gericht die Versammlung auflösen wird. Zuvor war bereits die gewählte Kammer des Parlaments wegen der Dominanz der Muslimbrüder per Gerichtsurteil aufgelöst worden. Hinzu kommt, dass die ägyptische Justiz sich in jüngster Zeit durch skandalöse Urteile hervorgetan hat, die Straffreiheit für Polizisten und Anhänger des alten Regimes bedeuteten. Mursis Absichtserklärung, die Strafverfolgung wieder aufzurollen und Anhänger des alten Regimes des Richteramts zu entheben, beinhaltete also auch ein Angebot an die »revolutionären« Demonstranten.

Aber Mursis Griff nach der unumschränkten Macht provozierte trotz seiner Beteuerung, er respektiere die Opposition, immer größere Proteste und härteren Streit. Ägypten ist tief gespalten – und Mursi alles andere als eine vereinende Führerpersönlichkeit. Während die Muslimbruderschaft seine angeblich guten Absichten verteidigt, ermöglicht genau dieses Dekret es der zerstrittenen Opposition, wieder erfolgreich zu mobilisieren. Die Angst vor einer Dominanz der Islamisten ist bei diversen gesellschaftlichen Organisationen gegenwärtig, möglicherweise war der Schritt Mursis einfach einer zu viel. In der Journalistenunion und in Anwaltsverbänden kam es zu auch handgreiflich ausgetragenen Konflikten darüber, ob man gegen Mursi protestieren oder ihn unterstützen solle. Selbst die Gewerkschaften protestieren, denn eines der jüngsten Dekrete der Regierung ermöglicht ihr die Berufung von Gewerkschaftsvertretern.
Schließlich knickten nach den überraschend heftigen Protesten sogar führende Muslimbrüder und Kabinettsmitglieder ein und distanzierten sich von Mursis Dekret – darunter auch der Sprecher der Shura, des Oberhauses des Parlaments, der mit Mursi verwandt ist. Das mag auch ein Schachzug des Präsidenten selbst gewesen sein, die Lage zu entspannen. Mursi selbst brachte plötzlich eine zeitliche Begrenzung seiner neuen Machtfülle ins Spiel, und sein Justizminister erbot sich, mit der widerspenstigen Richterschaft zu verhandeln. Diese wiederum signalisierte, mit dem Dekret leben zu können, falls es auf »Fragen der Souveränität« beschränkt werde – was allerdings weiterhin bedeuten würde, dass der Präsident das Verfahren über eine neue Verfassung und die nächsten Wahlen autokratisch bestimmen könnte. Ob Mursis reale Machtfülle dazu ausreicht, ist eine andere Frage. Ziemlich beeindruckend ist jedenfalls, wie es dem ägyptischen Präsidenten gelungen ist, quasi über Nacht vom plötzlich gefeierten Staatsmann zum besorgniserregenden Problemfall zu werden. Das ist auch eine Leistung.