Studentenproteste in Kolumbien

Trau keinem mit der 30

Nicht nur in Chile gehen Studierende auf die Straße, auch in Kolumbien sieht sich die Regierung Protesten gegen die Privatisierung des Bildungswesens gegenüber. Nach Jahren der Kriminalisierung sozialer Bewegungen ist die Beteiligung an den Bildungsprotesten ungewöhnlich hoch.

Sieben verletzte Studenten lautete die Bilanz, nachdem die Polizei den Campus der Universidad del Valle in Cali am Donnerstag vergangener Woche wieder verlassen hatte. Brutal waren die Beamten der Spezialeinheit ESMAD gegen die friedlich demonstrierenden Studenten vorgegangen. Diese hatten schon am frühen Morgen Stühle und Schulpulte herausgetragen und die Avenida Pasoancho im Rahmen der landesweiten Studentenproteste blockiert. Der studentische Protest, inzwischen auf den Namen »Pupitrazo« getauft, richtet sich gegen die Pläne der kolumbianischen Kultur- und Bildungsministerin María Fernando Campo Saavedra. Die resolute Frau ist für die Reform des sogenannten Ley Numero 30 verantwortlich, das das universitäre Bildungsangebot regelt.
In Cali reagierte die Polizei bisher am aggressivsten auf die Proteste. Doch nicht nur dort, wo sich die größte öffentliche Universität in Kolumbiens Süden befindet, sondern auch in Bogotá, Medellín oder Cartagena demonstrieren Studierende gegen dieses »Gesetz Nummer 30«. Während Studenten in anderen Ländern wie Nicaragua und Argentinien in langen Streiks Reformen zugunsten einer unentgeltlichen Bildung durchsetzen konnten, entwickelt sich Kolumbien im Moment noch in die andere Richtung. »Die Reform des Gesetzes Nummer 30 hat einen Privatisierungszug«, erklärte Sergio Fernández, der Vorsitzende der kol­um­bianischen Studentenorganisa­tion (OCE) gegenüber El Tiempo, der einzigen überregionalen Tageszeitung des Landes. Der Studentenführer kritisierte die unzureichende Finanzierung öffentlicher Universitäten durch die Regierung. Für jeden Studienplatz stellt diese pro Jahr gerade einmal knapp 200 Euro zur Verfügung. »Das ist definitiv zu wenig, um eine qualitativ gute Ausbildung zu gewährleisten«, kritisiert Fernández.

Die Regierung von Präsident Juan Manuel Santos hofft auf private Sponsoren und versucht, sich aus der Verantwortung für das Bildungswesen zu stehlen. Dabei wird auch der Konkurs der öffentlichen universitären Ausbildung in Kauf genommen, denn seit Jahren leiden die Universitäten unter einem immensen Defizit. »Seit 1992 ist es auf 700 Milliarden Pesos (266 Millionen Euro) angewachsen«, sagt Fernández. Aufgrund des Defizits herrscht an den öffentlichen Universitäten ein Einstellungsstopp. Nun sollen private Investoren das Problem lösen, so das Kalkül der Regierung. Diese Politik trifft auf den Widerstand der Studenten. Zu Recht, meint Katia González, Kunstdozentin an der Universität Nacional von Bogotá: »Der Staat will zwar einen Ausbau der Kapazitäten der Universitäten, aber zum Nulltarif. Denn Investitionen in die Qualität der Lehre, die Forschung und die Infrastruktur sind nicht geplant.«
Die Regierung hofft, dass private Investoren in die Bresche springen werden, zudem sollen die Studenten verpflichtet werden zu zahlen. Ein Angebot für private Ausbildungskredite soll geschaffen werden. Vielen Studenten erscheint dies als eine schleichende Privatisierung der Bildung. Bildung verkomme zum Handelsgut, kritisierte beispielsweise Alejandro Muñoz, Studentensprecher der linken Universität Inca. Eine Einschätzung, die auch Bildungsexperten wie Camilo Castellanos von der Stiftung »Bildung und Entwicklung« in Bogotá teilen. »In Kolumbien wird die Bildung immer mehr nach ökonomischen statt nach pädagogischen Kriterien gestaltet. Das ist ein Weg in die falsche Richtung«, kritisiert der ehemalige Lehrer und Hochschuldozent. Auch Mario Hernández von der Vereinigung der Universitätsprofessoren fordert, dass Bildung allen Gesellschaftsschichten offenstehen und nicht von der sozialen Herkunft abhängen solle.
Eine Diskriminierung aufgrund der sozialen Herkunft findet aber de facto schon länger statt, denn die Aufnahmeprüfungen an den öffentlichen Universitäten sind sehr anspruchsvoll. Jugendliche aus armen Stadtteilen, wo Schulen selten gut ausgestattet sind, haben da kaum eine Chance. Also müssen sie sich an einer der unzähligen Privatuniversitäten oder Fachschulen in Kolumbien einschreiben. Ein Weg, den viele Jugendliche beschreiten, weil es keine Alternative gibt. Aber selbst ein Universitätsabschluss garantiert in Kolumbien keinen Job mehr, denn Arbeitsplätze sind rar. Sinkt nun auch noch die Qualität an den öffentlichen Universitäten, haben Jugendliche ohne finanzkräftigen Hintergrund kaum mehr eine Chance. Ein Grund dafür, dass seit Monaten in Kolumbien gegen die Reform des Gesetzes Nummer 30 protestiert wird. Der Wochenzeitung Semana zufolge hat es in den ersten neun Monaten dieses Jahres 1 573 Demonstrationen gegeben, im gesamten vergangenen Jahr waren es dagegen nur 1 142. In diesem Oktober wird sich die Zahl noch um einiges erhöhen.

Koordiniert werden die Proteste von der Mesa Amplia Nacional Estudiantil (Mane), dem Runden Tisch der Studentenschaft Kolumbiens. Mane erinnert auf ihrer Homepage daran, dass die Proteste in Argentinien, Paraguay und Nicaragua nach Monaten des Streiks von Erfolg gekrönt waren. In Chile müsse man also nur durchhalten und in Kolumbien sich einig werden, ob man eine unentgeltliche Bildung haben und durchsetzen wolle, urteilt die Studentenorganisation auf der Homepage. Diese trägt den Titel »die wirkliche Reform« und wird von progressiven Studenten der Mane betreut. Ob diese Position in Kolumbien mehrheitsfähig ist, muss sich aber erst noch zeigen.
Im Gesundheitssystem wie im Bildungssystem geht die Tendenz seit Jahren in Richtung Privatisierung. So wurde an der Nacional, der renommierten öffentlichen Universität Bogotás, die medizinische Ausbildung zusammengestrichen, weil es kein Krankenhaus für die praktische Ausbildung gibt. Ein Armutszeugnis für eine öffentliche Universität, die auch international einen guten Ruf hat, aber ebenfalls hoch verschuldet ist.
Für die Fortsetzung der Militarisierungspolitik, die unter Álvaro Uribe Vélez eingeführt wurde und von seinem Nachfolger Juan Manuel Santos fortgesetzt wird, ist dagegen in aller Regel Geld da. Folglich lautet eine Parole der Studentenproteste auch »Weniger Militär- und mehr Bildungsausgaben«. Zahlreiche Professorinnen und Professoren solidarisierten sich mit den Studierenden und gingen ebenfalls für bessere Bildung auf die Straße. »Bildung ist ein Grundrecht und kein Privileg«, war auf Plakaten der Bildungsgewerkschaft FECODE zu lesen.
In den acht Jahren der Präsidentschaft von Álvaro Uribe Vélez scheint man dies vergessen zu haben, wie auch sonstige Grundrechte nicht viel galten. Andersdenkende und Kritiker der Regierung wurden als Anhänger der Guerilla diffamiert und kriminalisiert. Die Stigmatisierung von Studenten als Guerilleros und Staatsfeinde ist ein alter Reflex der nationalkonservativen Regierung. Derzeit hat sie damit jedoch nur geringen Erfolg, die Mobilisierungsfähigkeit der Studenten­organisationen ist ungewöhnlich hoch. Mehr als 10 000 Studenten protestierten Anfang Oktober in Bogotá, in Cali waren es ebenfalls meh­rere Tausend. Das brutale Vorgehen der Polizei in Cali zeigt jedoch, dass die Zeiten der Repression noch nicht vorüber sind.