Über die wirtschaftliche Lage in Ägypten

Die Revolution ist nicht kreditwürdig

Seit dem Sturz Hosni Mubaraks hat sich die wirtschaftliche Lage verschlechtert. Viele Ägypter kritisieren die anhaltenden Streiks. Ob zusätzliche Finanzhilfe aus dem Westen kommen wird, ist fraglich.

Am Nachbartisch wird die Diskussion laut. »In zwei Monaten gibt es in Ägypten keine Lebensmittel mehr, und du willst immer nur demonstrieren«, schimpft ein langhaariger Jugendlicher, der gerade noch das Mädchen neben sich geküsst hat. In dem italienischen Bistro auf der Insel Zamalek treffen sich die Kinder der gehobenen Mittelschicht. Hier kann man Caffé Latte und Pasta Al Pesto bestellen. Kaum vorstellbar ist es, dass sie hier in zwei Monaten nichts mehr zu essen haben. Aber sie haben Angst. Besorgt fragen sie, ob es denn stimme, dass es bald keine Lebensmittel mehr geben werde.
Der Journalist und Ägypten-Experte Max Roe­den­beck hält das für ein Gerücht: »Es ist schwer, an verlässliche Informationen zu kommen. Auch die meisten Ökonomen blicken nicht durch.« Fakt ist, dass die wirtschaftliche Lage düster aussieht. Ägyptens wichtigste Einnahmequelle ist der Tourismus, doch die Touristen bleiben aus. Banken und Börse machen kaum Geschäfte, die Ratingagenturen haben die Kreditwürdigkeit des Landes heruntergestuft. Das ägyptische Pfund verliert täglich an Wert, allerdings schon seit Juni 2010. In vielen Fabriken wird schon seit Monaten gestreikt.

»In manchen Industriegebieten arbeiten sie derzeit mit einer Kapazität von 25 Prozent«, berichtet Ahmed El Genedy, der Referent für soziale Entwicklung bei der Friedrich-Ebert-Stiftung. Die Arbeiter befürchten, dass sie nach der Revolution leer ausgehen. Erst spät haben die Aktivisten des 25. Januar begriffen, dass die Armut im Land das entscheidende Thema ist. In den Forderungen der meisten revolutionären Gruppen ging es zunächst nur um politische Rechte.
Als die Abstimmung über die Verfassungsreform am 19. März anders ausging, als es sich die säkularen Revolutionäre erhofft hatten, begann eine Diskussion darüber, wie man die Bedürfnisse der Bevölkerungsmehrheit besser in den Forderungen berücksichtigen könne. Der Blogger Sandmonkey schrieb: »Millionen sind für einen Mindestlohn auf die Straße gegangen, und ihr habt das Thema unter den Teppich gekehrt.«
Inzwischen ist das Bewusstsein da. Die Aktivistin Salma beschwert sich, dass die westliche Presse immer nur mit Angehörigen der ägyptischen Mittelschicht über die Revolution spreche. »Es waren die einfachen Leute, die das Regime zu Fall gebracht haben. Wir demonstrieren doch schon seit Jahren, aber auf einmal waren da Millionen.« Was würde es denn an der Berichterstattung ändern, wenn man die Demonstranten aus der Arbeiterschicht befrage? »Keine Ahnung«, sagt sie. »Ich würde auch gern wissen, was die wollen.«

Die Arbeiter kämpfen vor allem für höhere Löhne. Nur etwa 500 ägyptische Pfund (umgerechnet 60 Euro) verdienen viele Industriearbeiter pro Monat. Im öffentlichen Sektor sind es teilweise nur 250 Pfund, auch viele Lehrer und Ärzte müssen mit so niedrigen Gehältern auskommen. Das ist kaum möglich. 50 Piaster kostet ein Fladenbrot. Nach Abzug der Miete, wenn man denn einen der alten günstigen Mietverträge hat, könnte man rund 300 solcher Brote im Monat kaufen. Kaum genug Kalorien, um auch nur eine Person zu ernähren. Subventioniertes Brot gibt es zwar für fünf Piaster, doch dafür muss man oft stundenlang anstehen.
Das Verfassungsgericht hat schon im vergangenen Jahr geurteilt, dass der Mindestlohn 1200 Pfund (140 Euro) betragen müsste. Die Mindestlohn-Kampagne schließt sich dem an und fordert zugleich einen Maximallohn. »In den meisten Ländern ist das Verhältnis des niedrigsten Lohns zum höchsten eins zu 30«, erläutert Saied al-Sabagh, der Generalsekretär der unabhängigen Rentnergewerkschaft. »In Ägypten ist es eins zu 1 000.« 160 000 Superreichen gehören 40 Prozent des Landes, sagt er, die restlichen 60 Prozent gehören zu einer Mittelschicht, zu der etwa sechs Millionen Ägypter zählen. Den restlichen 77 Millionen gehört nichts. »Deshalb gab es eine Revolution. Es ging um Brot und Freiheit.«
Obwohl ein Großteil der Arbeiter sich im Streik befindet, ist es schwierig, Forderungen durchzusetzen. Die meisten Streikenden sind nicht organisiert. In den offiziellen Gewerkschaften konnten sich nur Arbeitnehmer des öffentlichen Sektors organisieren. Die privaten Unternehmen haben lange jegliche Gewerkschaftszugehörigkeit verboten. Wer einen Vertrag bekam, musste gleichzeitig seine undatierte Kündigung unterzeichnen. So wurde der Kündigungsschutz umgangen, und wer politisch tätig war, wurde entlassen. Inzwischen wären viele Unternehmer froh, wenn sie einen Gesprächspartner in den Fabriken hätten, in denen gestreikt wird, sagt Genedy.
Die Organisierung der 20 Millionen Arbeiter im Privatsektor ist eine gewaltige Aufgabe. Hinzu kommt, dass die offiziellen Gewerkschaften kaum die Interessen der Lohnabhängigen vertreten. »Die hatten Komitees, die sich ein Jahr lang mit der Vorbereitung auf Mubaraks Geburtstag beschäftigt haben«, erzählt Sabagh. Mitglied konnte ohnehin nur werden, wer in Mubaraks Nationaldemokratischer Partei war. »Alle Funktionäre der offiziellen Gewerkschaften sind korrupt«, glaubt auch Genedy. Das sind in jedem Fabrikkomitee sechs Leute, insgesamt gibt es 1 800 Komitees. Diese Organisationen seien nicht reformierbar, sagt Sabagh. Er gehört der unabhängigen Gewerkschaftsbewegung an, dort sind bisher aber nur rund 100 000 Beschäftigte organisiert.
Hinzu kommt, dass viele Ägypter Streiks und Demonstrationen inzwischen feindlich gegenüberstehen. Selbst der Gewerkschaftsfunktionär Sabagh hat Vorbehalte. »Sit-ins und Demons­trationen sind wichtig, aber im Angesicht einer wirtschaftlichen Krise müssen wir Schritt für Schritt vorgehen. Ich halte nichts von Leuten, die nur für ihre privaten Interessen demonstrieren«, sagt er. Damit meint er vor allem die Polizisten, die gleich nach der Revolution die Arbeit niederlegten, aber auch die im Ölsektor Beschäftigten. »Die verdienen 7 000 Pfund, weit über dem Durchschnitt von 3 000 Pfund.«

Die ägyptische Regierung schätzt ihren Bedarf an internationalen Krediten für das nächste Jahr auf sieben bis acht Milliarden Euro. Im internationalen Vergleich ist das wenig, Portugal hat gerade 78 Milliarden Euro von der EU und dem Internationalen Währungsfonds (IWF) erhalten. Die Finanzhilfe für Ägypten ist bislang dürftig. Der IWF hat angekündigt, dass er demnächst Experten nach Kairo entsenden werde, und die US-Regierung hat immerhin umgerechnet 116 Millionen Euro Soforthilfe für die ägyptische Wirtschaft bereitgestellt und plant, dem Land einen Teil der Schulden zu erlassen. Ihre Haushaltsplanung für 2012 sieht aber für Ägypten eher eine Ausgabensenkung vor. Beim G8-Gipfel in Deauville wurden Ägypten und Tunesien Ende vergangener Woche 20 Milliarden Dollar zugesagt. Doch die Zusage ist unverbindlich, überdies muss befürchtet werden, dass Kredite nur gewährt werden, wenn die Regierungen Ägyptens und Tunesiens den wirtschaftspolitischen Vorgaben des IWF folgen.
Die ägyptische Regierung ist skeptisch, ob Unterstützung aus dem Westen kommen wird. Überall hört man den Vorwurf, dass die Demokratien der westlichen Welt schuld seien an der Misere, weil sie das korrupte Regime unterstützt haben. Sabagh fordert vom Westen nur eins: »Helft uns, das Geld zurückzubekommen, das Mubarak uns gestohlen hat.«