Regierungskrise in Frankreich

Ein Umschlag für den Minister

Der französische Arbeits- und Sozialminister Eric Woerth soll die unpopuläre Rentenreform durchsetzen, doch nun muss er sich gegen Korruptionsvorwürfe wehren. Präsident Nicolas Sarkozy geht zum Gegenangriff über.

Ein Interview mit dem Präsidenten gehört normalerweise nicht zu den attraktiven Programmen für die Prime Time. Das war am Montagabend anders, denn viele Franzosen waren gespannt, wie Nicolas Sarkozy sich aus der Affäre ziehen würde. Sein Arbeits- und Sozialminister Eric Woerth soll dafür sorgen, dass die Rentenreform verabschiedet wird, steht aber im Zentrum eines mutmaßlichen Korruptionsskandals. Er wird der Beihilfe zur Steuerhinterziehung verdächtigt, bei der es um einen dreistelligen Millionenbetrag geht.
Der Präsident reagierte auf die Vorwürfe mit einem Gegenangriff. Er stellte die Kritik als ein Komplott gegen die Reformpläne seiner Regierung dar: »Wenn Sie Reformen in Angriff nehmen, dann rühren Sie an Interessen, rühren Sie an ­Besitzstände, dann stören Sie eine bestimmte Zahl von Leuten. Und die Antwort besteht oft in Verleumdung.« Es sei »kein Zufall«, dass »genau in der Minute, wo Eric Woerth die Rentenreform vorlegt, eine bestimmte Zahl von Leuten ihn aufhalten wollen«.
Um dem Eindruck entgegenzuwirken, dass sein Fernsehauftritt vom Montagabend mit der Affäre zusammenhängt, hatte Sarkozy am Wochenende zuvor mitteilen lassen, das Interview sei »schon seit einem Monat geplant« gewesen. Offenbar hatte der Präsident bis Ende vergangener Woche vergessen, irgendjemandem etwas davon mitzuteilen.
Wahrscheinlicher ist, dass die weit verbreitete Vermutung zutrifft, der zufolge Nicolas Sarkozy in höchster Not versuchen musste, das Image seiner Regierung zu verbessern. Bei einer Umfrage gaben nur nur noch 30 Prozent der Franzosen an, dem Präsidenten zu »vertrauen«. Am Mittwoch vergangener Woche zitierte die auf Enthüllungen sowie Satire spezialisierte Wochenzeitung Le Canard enchaîné einen namentlich nicht genannten Minister, bei dem es sich der Beschreibung nach um Innenminister Brice Hortefeux handeln könnte. Der prognostizierte, dass die bürgerliche Rechte bei den nächsten Präsidentschaftswahlen in gut anderthalb Jahren gar nicht erst in den zweiten Wahlgang käme. Die Stichwahl werde dann zwischen den Sozialdemokraten und der ­extremen Rechten ausgetragen, deren Präsidentschaftskandidatin, die Nachwuchspolitikerin Marine Le Pen, 22 Prozent der Stimmen erhalten könne.
Ihr Vater, Jean-Marie Le Pen, war im April 2002 mit nur 17 Prozent der Stimmen in die Stichwahl gekommen. Le Canard enchaîné zitiert auch Nicolas Sarkozy, der glaubt, die derzeitige Situation könne dem Front National »fünf Prozent der Stimmen« einbringen.
Die Frage ist, ob die Rechtskonservativen nicht genau das anstreben, für den Fall, dass es ihnen nicht gelingt, ihren Niedergang aufzuhalten. Jedenfalls tun sie beinahe alles, um einen Aufstieg der extremen Rechten zu beschwören. Es gilt ihnen als selbstverständlich, dass die extreme Rechte und auf keinen Fall die sozialdemokratische oder linke Opposition die »natürliche Alternative« zu einer konservativen Regierung ist.

Allerdings ist der Front National nicht unbedingt für den Kampf gegen Korruption und Vetternwirtschaft prädestiniert. Seit seiner Gründung im Oktober 1972 wird er von demselben Vorsitzenden geführt. Jean-Marie Le Pen bereitet nun eine dynastische Erbfolge vor, seine Tochter Marine soll die Parteiführung übernehmen. Ihr Vater wurde in den siebziger Jahren zum Multimillionär, indem er unter dubiosen Umständen das Alleinerbe eines geistig umnachteten Anhängers namens Hubert Lambert antrat. Dennoch wurde Marine Le Pen in der vergangenen Woche von fast allen Radio- und Fernsehkanälen dazu eingeladen, die Korruptionsaffären der Regierung zu kommentieren.
Mit kleineren Affären hatte sich die Regierung bereits zuvor befassen müssen. Unter anderem war bekannt geworden, dass der Staatssekretär Christian Blanc auf Staatskosten Zigarren im Wert von 12 000 Euro gepafft hatte. Ganz andere Dimensionen hat jedoch die Affäre, über die am 16. Juni die linksliberale Internetzeitung Médiapart erstmals Einzelheiten publizierte.
Florence Woerth, die Ehefrau des Arbeits- und Sozialministers, arbeitete seit November 2007 im Dienste Patrice de Maistres. Er verwaltet das Vermögen Liliane Bettencourts, einer Milliardärin und Erbin eines Nazikollaborateurs. »Um Eric Woerth einen Gefallen zu tun«, wie de Maistre Tonbandaufnahmen zufolge äußerte, war die Ministergattin in seiner Beraterfirma Clymène als Vermögensbetreuerin angestellt.
Liliane Bettencourt ist eine Großspenderin der Regierungspartei UMP. Deren Schatzmeister, der die Spenden von Privatsponsoren einkassiert, ist wiederum seit dem Jahr 2002 Eric Woerth. Er war in den Jahren 2007 bis 2009 Haushaltsminister und in diesem Amt auch für die Eintreibung von Steuern und den Kampf gegen Steuerbetrug zuständig. Liliane Bettencourt aber hat in großem Maßstab Steuern hinterzogen, es geht um dreistellige Millionenbeträge in Euro.
Das kam heraus, weil sie sich mit ihrer Tochter Françoise Bettencourt-Meyers um das Familienvermögen streitet. Médiapart publizierte Auszüge aus illegal aufgenommenen Tonbandmitschnitten, die für den jüngst begonnenen Prozess zwischen Liliane Bettencourt und ihrer Tochter angefertigt wurden. Allein auf zwei nicht angegebenen Konten in der Schweiz liegen 78 Millionen Euro. Ferner ist Liliane Bettencourt die persönliche Eigentümerin der Insel D’Arros, die zum »Steuerparadies« Seychellen gehört.

Da fällt es schwer zu glauben, dass nur zufällig bei Liliane Bettencourt seit nunmehr 15 Jahren keine Steuerkontrolle durchgeführt worden ist. Zumal der zuständige Minister Eric Woerth, wie die Pariser Abendzeitung Le Monde Anfang Juli berichtete, am 30. Januar 2008 persönlich bei Bettencourt in ihrer Privatwohnung im Millionärsvorort Neuilly-sur-Seine zum Abendessen weilte. Wenige Wochen nachdem sie einen Antrag gestellt hatte, erhielt Bettencourt im März 2008 sogar eine Steuerrückzahlung in Höhe von 30 Millionen Euro.
Der Minister, der aus einem rechtskonservativ-monarchistischen Umfeld stammt, hat Mühe, all diese seltsamen Zufälle zu erklären. Sarkozy steht aber nach wie vor hinter ihm, er bezeichnete ihn im Fernsehinterview als »grundehrlichen Mann«. Der Präsident kann auf seinen Minister kaum verzichten, denn die Rentenreform, die in Woerths Aufgabenbereich fällt, ist Sarkozys wichtigstes politisches Projekt. Sollten allerdings eindeutige Beweise auftauchen, dass Woerth Bettencourt begünstigt hat, würde sich die politische Krise erheblich verschärfen.
Das französische Kabinett soll die Vorlage zur Rentenreform in dieser Woche verabschieden, das Parlament wird in einer dreiwöchigen Sondersitzung im September darüber debattieren. Die Reform ist ausgesprochen unpopulär, 67 Prozent der Franzosen halten sie für »ungerecht«. Am 24. Juni demonstrierten bereits anderthalb bis zwei Millionen Menschen dagegen, für den Frühherbst werden noch stärkere Proteste erwartet. Geplant ist unter anderem, die Zahl der ob­ligatorischen Beitragsjahre zur Pensionskasse bis 2018 auf 41,5 anzuheben. Bereits bei einer vorangegangenen Reform ist die Zahl der Beitragsjahre um 2,5 auf 40 erhöht worden.
Auch das gesetzliche Mindestalter für den Eintritt in die Rente soll von 60 auf 62 Jahre angehoben werden. Dieses Mindestalter aber gilt ausschließlich für jene, die die erforderlichen Beitragsjahre vorweisen können. Das aber wird mit jeder Anhebung schwieriger. Wer beispielsweise längere Zeit arbeitslos war, muss entweder Abzüge akzeptieren, die für zwei fehlende Beitragsjahre bereits zehn Prozent der Rente ausmachen, oder aber bis zum gesetzlichen Eintrittsalter warten. Dieses lag bislang bei 65 Jahren. Bis 2023 soll es nun auf 67 Jahre angehoben werden. Auch dann wird der bestraft, dem Beitragsjahre fehlen, weil die Rente wegen eines geringeren Gesamtvolumens der Beiträge niedriger ausfällt.

Sarkozy hält diese Reform für einen Fortschritt und ein Gebot der »wirtschaftlichen Vernunft«. Für ihn kommt es derzeit nicht in Betracht, den zuständigen Minister Eric Woerth zu opfern, auch wenn dieser unter anderen Umständen wohl bereits zum Rücktritt gedrängt worden wäre. Dass Woerth weiterhin im Verdacht steht, eine Milliardärin begünstigt und mit ihrer Hilfe die ­Regierungspartei bereichert zu haben, wird allerdings nicht zur Popularität der Rentenreform beitragen.
Eric Woerth sei entlastet worden, behauptete Sarkozy in dem Fernsehinterview. Ein vom Haushaltminister bestellter und am Sonntagabend publizierter Bericht des Direktors der Allgemeinen Steuerinspektion (IGF), die die Finanzämter kontrolliert, kommt zu dem Ergebnis, es seien keine Spuren einer Intervention des Ministers zugunsten von Liliane Bettencourt gefunden worden. Der Bericht, für den 6 247 Steuerakten untersucht worden sein sollen, wurde im Rekordzeitraum von anderthalb Wochen erstellt. Er ist höchst umstritten. Verantwortet wird er nicht von der Behörde, sondern nur von ihrem Direktor. Dieser aber ist ein direkter Untergebener des Haushaltsministers, derzeit Woerths Nachfolger François Baroin, und kann jederzeit ausgetauscht werden.
Der Bericht bestätigt sogar, dass Eric Woerth über die steuerliche Situation Bettencourts »informiert« war. Es wurde jedoch kein schriftlicher Beleg für eine Anordnung Woerths gefunden, Bettencourt zu begünstigen. Ein Mindestmaß an Diskretion und Geschick darf man dem Minister aber wohl zutrauen. Er bevorzugte offenbar traditionelle Methoden: Bettencourts ehemalige Buchhalterin sagte bei der Polizei aus, Woerth habe eine rechtswidrige Parteispende in Höhe von 150 000 Euro bei einem Abendessen in einem Umschlag entgegengenommen.
Indessen erfolgte vergangene Woche eine Auswertung der Tage- und Kassenbücher der früheren Buchhalterin von Patrice de Maistre in den Jahren 1995 bis 2009, Claire Thibout, durch die Polizei. Dabei stellte sich heraus, dass in den ersten vier Monaten von 2007 – in der Periode unmittelbar vor der französischen Präsidentschaftswahl – insgesamt 388 000 Euro in bar abgeheben wurden, deren Verbleib bislang ungeklärt ist. Ein größerer Teil davon dürfte Sarkozys Wahlkampf finanziert haben.