Gespräch mit Pardis Mahdavi über iranische Jugendliche, Sex und den Islam

»Roter Lippenstift und pinke Mäntel sind keine Modefrage«

Zwischen 2000 und 2007 fuhr die US-amerikanische Anthropologin Pardis Mahdavi immer wieder nach Teheran, um in Interviews und durch Partybesuche zu erfahren, wie iranische Jugendliche das Verbot von außer- und vorehelichem Sex umgehen. Im Oktober vergangenen Jahres wurde ihre Studie bei Stanford University Press unter dem Titel »Passionate Uprisings: Iran’s Sexual Revolution« veröffentlicht und fand in der amerikanischen Presse ein großes Echo.

Was macht die »cyber sexual culture« in Teheran aus, von der Sie in Ihrem Buch sprechen?
Zum einen das Internet. Farsi, die persische Sprache, ist die am dritt- oder viertmeisten benutzte Sprache in der Blogo­sphäre. Die Iraner sind ständig online und versuchen, weil die öffentlichen Räume von der Moralpolizei reglementiert sind, alternative Räume im Cyberspace zu finden, in denen sie Leute kennen lernen oder sich zu Sexpartys verabreden können. Das andere ist die Kleidung: Frauen tragen viel Make-up, pinke statt schwarze Mäntel, die sehr eng sind, und binden ihre Schleier so, dass vorne und hinten viel Haar zu sehen ist. Männer tragen Schmuck oder Accessoires, die als »unislamisch« betrachtet werden, weil sie einen Blickfang darstellen. Es gibt eine zunehmend größer werdende schwule Bewegung und eben die berühmten wilden Privatpartys, wo es zum guten Ton gehört, Gruppensex zu haben. Noch vor zehn Jahren konnte man in Teheran keine jungen Pärchen Hände haltend in öffentlichen Parkanlagen sehen. Heute braucht man nicht lange danach zu suchen.
Was Sie beschreiben, klingt eher nach einer schleichenden Transformation als nach einer »Revolution«, wie Sie es in Ihrem Buchtitel andeuten.
Die Jugendlichen selber verwenden den Begriff der »sexuellen Revolution«, der zuerst von ira­nischen Bloggern für dieses Phänomen gebraucht wurde. Es handelt sich hier nicht um eine Revolution im politischen Sinne, sondern eben um eine sexuelle Revolution. Und das bedeutet eine Veränderung der Diskurse. Die sexuelle Revolution ändert die Art und Weise, wie über Sex geredet wird, und sie ändert die Praktiken, wie und wie oft Leute Sex haben.
Inwiefern ist diese Libertinage ein bewusster politischer Protest?
Die jungen Iraner, mit denen ich gesprochen habe, sagten mir, dass sie ihre Sexualität als politisches Mittel benutzen, da Sexualität und Körper zum Kampfplatz geworden sind, auf dem das ira­nische Regime seine Macht ausübt. Die Jugendlichen wollen nun ihrerseits Sexualität benutzen, um die moralischen Grundlagen des Regimes in Frage zu stellen und auf diese Weise ihren Dissens mit dem Regime auszudrücken.
Wie weit verbreitet ist diese Diskurse verändernde »Revolution«?
Die sexuelle Revolution ist keine Randerscheinung mehr, sondern ein Massenphänomen. 70 Prozent der iranischen Bevölkerung sind unter 30 Jahren. Die Hälfte ist zwischen 18 und 30 Jahre alt. Immer mehr Jugendliche wollen an sex­uellen und sozialen Aktivitäten teilnehmen, die im Iran verboten sind. Die Mehrheit der Bevölkerung ist also von dem Regime desillusioniert.
Die Jugendlichen sind wegen der kostenlosen Bildungsangebote sehr gut ausgebildet, haben aber keine oder schlecht bezahlte Jobs, so dass die Frustration immer größer wird. Man hat viel Zeit, also kommt man zusammen, spricht miteinander, tauscht Ideen, Geschichten und Erfahrungen aus.
Ist die Masse der Grund, warum das Regime diese Entwicklung anscheinend weitgehend toleriert?
Ja. Noch vor einigen Jahren wurden über 10 000 Frauen verhaftet, die verbotenerweise mit Sandalen auf die Straße gingen. Aber kein Regime kann dauerhaft so viele Leute ins Gefängnis stecken. Die Elemente der Jugendkultur ändern sich derzeit so schnell, dass die Moralpolizei gar nicht hinterherkommt, mit Gesetzen auf diese Entwicklung zu reagieren. Deshalb ist das ­Regime quasi dazu gezwungen, diesen Veränderungen nachzugeben. Es hat keine andere Wahl.
Einen Regime Change können wir aber durch diese »sexuelle Revolution« nicht erwarten, oder?
Die sexuelle Revolution hat einen großen Einfluss, weil alles im Iran politisch ist beziehungsweise vom Regime politisiert wird. Die Jugendlichen beschwerten sich in den Interviews, die ich mit ihnen führte, darüber, dass die Moralwächter einen völlig falschen Fokus hätten. Statt sich darüber Gedanken zu machen, wie der Verkehr in Teheran, die Luftqualität oder die Jobsituation verbessert werden könnte, würden sie sich die ganze Zeit damit beschäftigen, absurde Gesetze wie dieses zu erlassen: Wenn es ein Erdbeben gibt und ein Mann aus einer Wohnung auf eine Frau fällt, die in einer tiefer gelegenen Wohnung lebt, und diese Frau dann schwanger wird, ist dieses Baby nicht als uneheliches Kind zu betrachten? Absurd, oder?
Die Jugendlichen wollen keine blutige Revolu­tion mehr. Es geht um eine subversive Revolution, die allmählich die moralischen Grundlagen, auf denen das Regime basiert, aushöhlt.
Wie groß ist der Anteil der Jugendlichen, die neben den moralischen Vorstellungen auch die politische Ideologie des Regimes, beispielsweise im Hinblick auf Israel, ablehnen?
Die Jugendlichen sind sehr politisch, sie sind alles andere als teilnahmslos. Aber sie handeln sehr strategisch, um das zu bekommen, was sie wollen. Roter Lippenstift und pinke Mäntel sind keine Modefrage, sondern ein politisches Statement. Es mag für uns nach oberflächlichen Dingen klingen. Aber hinter dieser Modefrage steht eine intellektuelle Architektur. Und diese Architektur hat eine politische Grundlage.
Gehören die Forderungen der iranischen Frauenbewegung zu diesen politischen Grundlagen?
Viele der Leute, mit denen ich gesprochen habe, sagten mir, dass sie von der Frauenbewegung inspiriert wurden. Diese mutigen Frauen waren und sind selbstverständlich einer sehr viel größeren Gefahr ausgesetzt, weil sie das Regime direkt herausfordern. Ich denke oder vielmehr hoffe aber, dass sie durch die wachsende Zahl von Frauen und Jugendlichen, die sich ihren Forderungen anschließen, besser geschützt werden.
Ist der freiere Umgang mit Sexualität ausschließlich ein Phänomen der städtischen Mittel- und Oberschicht?
Nein, das geht durch alle Schichten in Teheran. Ob es sich auch in den ländlichen Gegenden als Massenphänomen durchsetzt, kann ich nicht sagen, weil ich meine Untersuchungen auf Teheran beschränkt habe.
Wie ist das Verhältnis der iranischen Jugend­lichen zum Islam und zu Religion im Allgemeinen?
Die Mehrzahl der Jugendlichen würde ich nicht als unreligiös beschreiben, sondern eher als sehr spirituell. Der Sufismus hat unter den Jugend­lichen ein großes Comeback erlebt. Aber die meisten Leute sind für eine Trennung von Staat und Religion und wollen nicht, dass die Regierung ihnen vorschreibt, wie sie ihr Verhältnis zu Gott gestalten oder dass die religiösen Gesetze die politische Regierung dominieren.
Das Auto spielte in der amerikanischen Jugendkultur als Freiheitssymbol immer eine große Rolle. Sie beschreiben, dass das auch in Teheran zunehmend der Fall ist.
Das Auto in Teheran ist eine Art private Blase, die sich durch die von den Tugendwächtern kontrollierten Straßen bewegt. Im und mit dem Auto versuchen die iranischen Jugendlichen, in der Öffentlichkeit das zu leben, was sie sonst nur hinter verschlossenen Türen tun. Zwar trägt bislang noch niemand im Auto ein schulterfrei­es Top, aber im Autoradio wird verbotene Musik gespielt und man fährt als unverheiratetes Pärchen einfach an der Moralpolizei vorbei. Mit dem Auto schaffen sich die Jugendlichen eine Autonomie, einen privaten Raum in der öffentlichen Sphäre.
Ein anderer Aspekt, den Sie in Ihrem Buch problematisieren, ist die Diskrepanz zwischen der Zunahme freier Sexualität und dem Mangel an Aufklärung.
Ja, das ist die negative Seite der sexuellen Revolution. Immer mehr Frauen werden ungewollt schwanger und sind dazu gezwungen, eine illegale Abtreibung vorzunehmen, und das oft mit Medikamenten, die für Tiere entwickelt wurden. Dass Geschlechtskrankheiten wie Aids durch Sex übertragen werden, wissen viele Jugendliche immer noch nicht. Das Gesundheits- und Erziehungsministerium hat bislang kaum Schritte unternommen, um diesen zunehmenden Problemen entgegenzutreten. Bei meinem Aufenthalt in Teheran stand ich in regem Kontakt mit diesen Ministerien und traf dort auch teilweise auf Unterstützung, um Broschüren zu entwickeln, die über die Probleme aufklären. Doch leider sind diese Pläne mit der Wahl von Mahmoud Ahmadinejad wieder völlig verschwunden.
Gab es im Iran Reaktionen auf Ihr Buch?
Ich weiß es nicht. Ich erhalte zwar viele Mails von Teheraner Jugendlichen, die das Buch gerne lesen würden, aber bislang ist es noch nicht übersetzt worden. Es bleibt abzuwarten, ob und wie es im Iran diskutiert wird.