Die deutsche Olympiabilanz

Emotion und Liveberichte

Die deutsche Olympiabilanz fällt schlecht aus, obwohl auch diesmal auf Tradition geachtet und ein Pferd beim Doping erwischt wurde.

Vielleicht lag’s an der Hitze, vielleicht hatte er auch nur gedacht, dass so früh am Morgen niemand mehr so richtig zuhört, wie auch immer: Die Sekunde, in der die deutsche Mountainbikerin Sabine Spitz die Goldmedaille holte, geriet dem für diese Sportart zuständigen ARD-Reporter zu einer formvollendeten Demonstration. Sie enthielt alles, was am deutschen Sportjournalismus verabscheuungswürdig ist. Die enthusiastische Reportage des Fans am Mikrofon gipfelte, ach was, orgasmierte in folgendem Satz, vorgetragen im sportreportertypischen atemlos-gepressten Sprech-Schrei-Stil, bei dem die Pause hinter jedem Ausrufezeichen zum kurzen, aber umso heftigeren Atemholen genutzt wird: »Und sie trägt! das Rad! über die Linie!«
Viele Gelegenheiten zum enthemmten Sieges­taumel hatten die deutschen Reporter allerdings nicht. Mit insgesamt 41 Medaillen fiel die Bilanz des Olympiateams denkbar schlecht aus, sie weist damit immerhin eine gewisse Kontinuität auf, denn seit 1992 geht die Zahl der erreichten ersten, zweiten und dritten Plätze beständig zurück.
Bedauerlicherweise war dies kein Grund für ARD und ZDF, die in aller Regel furchtbar langweiligen Athleten-Interviews einzuschränken. Drei Wochen lang mehr oder weniger atemlose Menschen erzählen zu hören, dass sie wahlweise sehr glücklich, sehr unglücklich oder auch vollkommen ahnungslos sind, wie Dopingmittel in ihre Pferde hineingekommen sind, hatte sich eigentlich bereits vor vier Jahren in Athen als nur begrenzt unterhaltsam erwiesen. Die ARD verschärfte die Gespräche in Peking jedoch noch, indem sie Franziska van Almsick als »Schwimmexpertin« einsetzte. Und so musste man zusätzlich zum emotionalen Elend der Aktiven noch der Ex-Weltmeisterin zuhören, deren Sätze fast ausschließlich mit »Ich als ARD-Schwimmexpertin« oder »Als ARD-Schwimm­expertin habe ich … « begannen.
Bei so viel geballtem Deutschland-Zentrismus fielen ganze Sportarten für ARD- und ZDF-Zuschauer aus, wie zum Beispiel Softball. Weil im Softball fast immer nur die USA gewinnen, wird die Sportart bei den nächsten Olympischen Spielen in London wohl nicht mehr im Programm sein. Diesmal allerdings gewannen, weitgehend unbemerkt, die Japanerinnen. Bei drei olympischen Spielen hintereinander hatte das US-Team 22 Spiele hintereinander gewonnen, bis im Pekinger Finale Schluss war. Den überraschenden 3:1-Sieg seiner Schützlinge kommentierte der japanische Coach Haruka Saito so: »Das gibt uns große Motivation im Kampf, Softball wieder zur olympischen Sportart zu machen. Dafür werden wir weltweit kämpfen, in jedem Winkel der Erde!« Goldmedaillengewinnerin Eri Yamada sekundierte: »Die Welt muss endlich verstehen, dass Softball ein wirklich gutes Spiel ist. Unser Sieg ist ganz wichtig für die Kampagne ›Back Softball‹, wir sind wirklich froh, dass wir es geschafft haben.« Bronze gewann übrigens das australische Team.
Die 4×400-Meter-Staffeln wurden, wie viele andere Wettbewerbe ohne deutsche Sportler mit Medaillenchancen, zeitversetzt übertragen. Für Hintergrundberichterstattung über das Gastgeberland blieb ebenfalls keine Zeit, bis auf Plattitüden über die Menschenrechtslage und Filmchen über Sehenswürdigkeiten erfuhr man kaum etwas über China.
Und auch nur ganz wenig darüber, wie das größte Sportereignis der Welt logistisch abläuft. Dass koscheres Essen, chinesisch: Jie Shi (sauberes Essen), derzeit in China boomt, blieb beispielsweise unerwähnt. Dabei bescheren in diesem Jahr nicht nur die jüdischen Teilnehmer und Besucher aus aller Welt dem einzigen koscheren Restaurant des Landes neue Besucherrekorde. Nach zahlreichen Lebensmittel­skan­da­len sind die chinesischen Verbraucher verunsichert, und immer mehr Produzenten produzieren koscher, um das begehrte Zertifikat zu erhalten. In Olympischen Dörfern wird immer streng auf die Einhaltung der Speisevorschriften geachtet und entsprechend speziell für Juden, Moslems, Hindus und Buddhisten gekocht.
Bei den diesjährigen Spielen ist der Pekinger Rabbiner Shimon Freundlich für die Einhaltung der Kashrut-Regeln verantwortlich gewesen. Zwischen 300 und 400 koschere Mahlzeiten, rund doppelt so viele wie in Athen, wurden täglich gekocht. Die Zutaten dafür zu besorgen, war einfach – bis auf Fleisch, das derzeit in China weder koscher noch halal produziert wird. Die Zahl der Juden in China ist nicht besonders groß: Rund 1 500 leben in Peking, 1 000 in Shanghai, einige tausend verstreut im Land und 4 000 in Hongkong. Doch werden mit dem Koscher-Zeichen der Orthodox Union versehene Lebensmittel von vielen Chinesen bevorzugt gekauft, weil sich gesundheitsbewusste Verbraucher sicher sein können, dass das schwarze U im schwarzen Kreis Sicherheit garantiert.
Rabbiner Freundlichs Dienste werden aber nicht nur von chinesischen Betrieben, die koschere Lebensmittel produzieren, in Anspruch genommen. Auch ausländische Firmen, die in China nicht koscher fertigen, bitten ihn immer häufiger, die Produktionsstätten in puncto Hygiene zu überprüfen. Und so mangelt es auch außerhalb der Spiele dem Pekinger Dini’s ­Kosher Restaurant nicht an Kundschaft.
Vor einem Gericht schrecken nicht-jüdische Chinesen trotz ihres Rufs, alles zu essen, was auf einen Teller passt, bisher allerdings noch zurück: »Gefillte Fish ist definitiv kein Renner«, berichtete Zhao Haixia, stellvertretende Geschäfts­führerin des Dini’s, der israelischen Zeitung Haaretz. »Kalter Fisch klingt für Chinesen einfach nicht nach einem attraktiven Gericht.«
Vielleicht hätte gegen die dröge deutsche Olympia-Berichterstattung allerdings auch ein richtiger Skandal geholfen. Ein gedoptes Pferd erfüllt den Tatbestand eines empörenden Vorkommnisses natürlich nicht, schließlich werden deutsche Reiter nun schon traditionell bei Olympischen Spielen erwischt, weswegen so ein positiver Test auch kaum noch Grund zu Aufregung ist.
Ein richtig formvollendeter olympischer Skandal gelang dagegen dem wallonischen Sportminister aus Belgien. Der sturzbesoffene Fan, der in Peking sowohl bei einem Tennis-Doppel zwischen Argentinien und Belgien als auch bei einem Hockeymatch mit belgischer Beteiligung laut gepöbelt und gestört hatte, wurde nach kurzer Zeit anhand von Fernsehbildern als hochrangiger belgischer Politiker identifiziert. Michel Daerden, regionaler Finanz- und Sportminister, hatte vor allem während der Tennis-Begegnung der Doppel Rochus/Darcis gegen Nalbandian/Cañas derart ausdauernd getobt, dass sich der argentinische Spieler David Nalbandian schließlich gezwungen sah, ihn zur Ordnung zu rufen. »He du, du hast echt keine Ahnung vom Tennis«, rief er dem betrunkenen Pöbler unter anderem zu, was diesen allerdings kaum beeindruckte.
Auf die Fernsehbilder angesprochen, die Michel Daerden in deutlich derangiertem Zustand als Olympia-Zuschauer zeigen, erklärte das Büro des Ministers lapidar, der Politiker könne »unmöglich in der angesprochenen Verfassung gewesen sein« – obwohl auch ein einige Tage zuvor ausgestrahltes Interview mit einem Privatsender den Mann ganz klar betrunken gezeigt hatte.
Gleichwohl hat in Belgien nach diesen Vorfällen eine Debatte über Alkohol und Politik begonnen, nachdem ein Kollege Daerdens, der flämische Sportminister Bert Anciaux, erklärt hatte, dass Daerden ein deutliches Alkoholproblem habe, und damit aber ganz sicher nicht der einzige sei.