Sonderbärchen und der Pullunderdoktor

Weihnachten ist öde: Futtern, Familienstreit, Fernsehen, Frust und Freudlosigkeit. Doch das muss nicht immer so sein am Jahresende, denn: Man könnte es sich ja im Lehnstuhl bequem machen und lesen. Zehn Autorinnen und Autoren der »Jungle World« erzählen von Büchern, die ihnen wichtig sind, die man entweder dringend selbst lesen oder an seine Liebsten verschenken muss. Ein Autor jedoch schert aus und warnt vor einem Buch, von dem es künftig die Finger zu lassen gilt.

Dieses Buch bitte nicht mehr verschenken!

Wenn man sich etwas intensiver mit Tieren beschäftigt und Naturschutz für eine wichtige Sache hält, wird man in einem fort bestraft: durch Ignoranz und Idiotie (»Klimaskeptiker«), durch weichköpfige Biologismuskritik, die den Unterschied zwischen Biologie und Biologismus nicht kapiert, und, am perfidesten, indem man zu Weihnachten den Roman »Der Schwarm« von Frank Schätzing geschenkt bekommt. Allein voriges Jahr konnte ich drei der Quader am ersten Feiertag feierlich dem Altpapiercontainer überantworten. Über 500000 Deutsche haben die 1000 Seiten der gebundenen Ausgabe vom Weihnachtsbaum ins Bett geschleppt, hinzu kommen ungezählte Folgeauflagen des Taschenbuchs, für die ein nordseegroßes Stück Wald zu Papier verarbeitet wurde. Aber, wie Greenpeace betont, vom »Weltforstrat« zertifiziert – wer auch immer das sein mag. Das Ding dürfte in jedem Fall einer der erfolgreichsten Backsteine deutscher Belletristik sein.

Die Geschichte ist rasch erzählt: Mutter Natur ist böse mit uns. Sehr böse. Die Menschen benehmen sich schlecht und werfen Schmutz ins Meer. Weil sich das nicht gehört, müssen sie weg. In der Folge beißen Wale die Watcher entzwei, explodieren Hummer im Kochtopf und lösen Borstenwürmer Tsunamis aus. Um den Plot vom Achtziger-Jahre-Gaia-Mantra der Kirchentagsmeditation zu befreien, erfindet Schätzing eine Spezies hochintelligenter, Amok laufender Pantoffeltierchen, die irgendwo im Mariannengraben dümpeln und von Diplomatie nicht viel zu halten scheinen. Einerseits löst man via Schallwellenkontakt lustig Mathe-Aufgaben mit dem Gesprächspartner, dessen Schiff man andererseits beiläufig versenkt – der kritische Dialog der Kulturen lässt grüßen. Dabei nimmt das Schiffeversenken allein geschlagene 100 Seiten in Anspruch, bis endlich jede Kabine geflutet und jede Halterung gebrochen ist. Und so wie das Schiff jault, knarzt und sinkt, so geht es auch mit Schätzings Sprache und den Klischeefiguren, die schon weit früher zwischen indianischer Selbstfindungslyrik und den letzten Zuckungen der Tos­kana-Fraktion abgesoffen sind. Aber um Literatur geht es in dem von FAZ bis Taz hochgejubelten Buch auch gar nicht, sondern um die deutsche Seelenlage. Die Helden des Romans sind einige europäische Wissenschaftler, die bis zum bitteren Ende in einer Art Gesprächstherapie mit den Tiefseemikroben plaudern und Verständ­nis für deren schwierige Lage haben. Denn, merke: Wir haben die Erde nur von unserem Heuaufguss geerbt. Während die Einzeller bei allem Gerede weiter munter meucheln, sitzt der wahre Feind der »menschlichen Rasse« (sic!) selbstredend in Amerika. Dabei lässt Schätzing Bush, Rice, Powell und Rumsfeld derart 1:1 auftreten, dass ihre literarische Verfremdung geradezu lächerlich wirkt (»Li« statt »Condoleezza«, Asia- statt Afro-Amerikanerin). Bush ist der tumbe Texaner, der nichts begreift, Powell der loyale Militär, der eigentlich ganz okay ist, aber vom System schließlich ausgeschaltet wird, und Rice die böse Schlange, die hochgebildete, klavierspielende Frau mit den guten Manieren und der erotischen Ausstrahlung, die aber, ohne mit der künstlichen Wimper zu zucken, über Leichen geht. Man kennt das ja, Frauen in Führungspositionen – ächz. Die maulfaulen Einzeller mit dem Mega-IQ bringen zwar Menschen in x-facher Holocaust-Stärke um, aber, so Schätzings Botschaft: Nicht so schlimm, man muss nur etwas Verständnis für ihre labile Psyche aufbringen, im Grunde sind die schon ganz in Ordnung, sie hatten es ja auch nicht leicht. Kein Wunder, dass die Deutschen den Autor für diesen unterseeischen Schwachsinn zum Millionär gemacht haben: Man hat hierzulande ja großes Verständnis dafür, quasi als Betriebsunfall mal ein paar Millionen Menschen umzubringen.

Ein Gutes hat das Ganze aber doch: Wenigstens wird der Borstenwurm angemessen gewürdigt.

Heiko Werning über Frank Schätzings »Der Schwarm«

 

Heiliges Kugellager!

Ein Mord. Polizisten. Fahrräder. Fußnoten. De Selby. Zeit und Raum. Anfang und Ende. Völlig skurril. Unfassbar komisch. »Der dritte Polizist« von Flann O’Brien. Leider erschöpft sich das, was ich auf Anhieb darüber erzählen kann, in solch erbärmlichem Gestammel. Ich gehöre zu jenen bedauernswerten Kreaturen, deren Belesenheit eine Halbwertszeit von wenigen Stunden hat. Bereits beim Zuklappen eines großartigen Romans kann ich keinen einzigen der soeben gelesenen wunderbaren Sätze mehr wiedergeben, kurze Zeit später erinnere ich mich allenfalls noch in gröbsten Zügen an seinen Inhalt, und spätestens nach der nächsten Tiefschlafphase habe ich vergessen, wie die Geschichte endete.

Der große Vorteil dieser Erinnerungsschwäche, die sich möglicherweise mit einer Disharmonie zwischen den Gehirnhälften erklären lässt, ist es, Lieblingsbücher immer wieder genießen zu können wie beim ersten Mal. Schon eine beiläufige Beschreibung wie die folgende aus der Feder O’Briens vermag Glücksgefühle in mir auszulösen, wie sie jemand, der schon weiß, was ihn erwartet, keinesfalls nachempfinden kann: »In größerer Nähe stand ein Haus in Gesellschaft dreier Bäume und von der Heiterkeit eines Geflügelklüngels umgeben, welcher allzumal pickte, scharrte, laut disputierte und dabei doch nie mit der unermüdlichen Herstellung von Eiern innehielt.«

Darüber hinaus bietet »Der dritte Polizist« ganz speziellen Trost für solche wie mich. Zum einen würde eine vollständige Wiedergabe des Inhalts den Leser ohnehin nur verstören und hat daher besser auszubleiben. Zum anderen ist der Protagonist noch wesentlich schlechter dran. Obwohl mit seinen Gehirnhälften zuvor möglicherweise alles in bester Ordnung war, vergisst er bereits nach wenigen Seiten seinen Namen, findet sich im Zwiegespräch mit seiner Seele wieder, die auf den Namen »Joe« hört, und trifft auf den Mann, welchen er zu Tode brachte, der aber auf die Frage »Sind Sie eigentlich gegenwärtig tot?« recht entschieden mit »Nein« antwortet. Dies jedoch vor allem, wie sich herausstellt, aus Prinzip: »›Nein‹ ist, allgemein gesprochen, eine bessere Antwort als ›Ja‹.«

Um in angemessener Weise für die Gedanken des Philosophen de Selby empfänglich zu sein, in dessen Schaffen und Rezeption der Roman einen Einblick vermittelt, ist es geradezu hilfreich, den Kontakt der Gehirnhälften untereinander für eine Weile gänzlich zu unterbinden, war doch der große Geist Zeit seines Lebens damit beschäftigt, »die offensichtlichsten Fakten in Frage zu stellen, sogar wissenschaftlich eindeutig Erwiesenes zu bestreiten und gleichzeitig mit völliger Unbedingtheit an seine eigenen phantastischen Erklärungen dieser Phänomena zu glauben«. Für seine Hypothesen kann nur wirklich offen sein, wer in seinem Denkorgan stets ein paar geräumige, leere Winkel zur Verfügung hat, die für die Aufnahme der Neuigkeiten bereit stehen. Die Erde ist eine Wurst. Dunkelheit entsteht durch die regelmäßig wiederkehrende Verschmutzung der Atmosphäre. Und der Schlaf ist »ganz einfach eine Folge von Ohnmachtsanfällen, die durch partielle Erstickung herbeigeführt werden, welche auf (die Dunkelheit) zurückzuführen sind«.

Bloß, und da sind wir wieder bei den Nachteilen, halten auch derartig wertvolle Anregungen nicht allzu lange vor. Die erneute Lektüre steht an. Handelt es sich um ein Fahrrad? Omnium? Gott? Käse? Fahrradklammer? Der Weg zur Ewigkeit? Und was hat es eigentlich mit dem dritten Polizisten auf sich?

Regina Stötzel über Flann O’Briens »Der dritte Polizist«

 

Was an Weihnachten zu lesen wäre und was zu lesen ist

Wiederzulesen wäre dringend Thomas Pynchons »V.« – nein, eigentlich alles von Pynchon. Aber gut, ein Buch will ausgewählt sein, und die Lektüre von »V.« liegt am weitesten zurück. Mit ihr begann die Reise in den Abgrund, in ihr gründete das Literaturverständnis, dass alles, was weniger komplex als die Dichtung Pynchons ist, zwar auch gelesen werden will, aber doch eher dem Medienkonsum zugerechnet werden muss: Unterhaltung, Information, Erkenntnis, Entspannung, Muße oder Genuss. Konsum hat viele Gesichter, und manche von ihnen sind sogar schön.

»V.« ist so nicht. »V.« ist anders. »V.« ist abstoßend. Erbärmlich. Widerwärtig. Man versteht es ja nicht. Es ist radikal. Böse. Dunkel. Klar. Kristallin. Zeigt, dass es nichts zu verstehen gibt. Es geht um … Arschloch. Allein diese Worte. Es. Geht. Um. Was soll das? Und doch: Es geht um. Das Buch. Der Roman. Er geht um. Um uns rum. Überall hin. Reißt an, macht kaputt, entdeckt, vernebelt, zieht klar. Und es geht um nichts. Und es geht um alles. Und manche sagen freitags, das sei gar keine Literatur. Sondern nur Sinnsuche. Identitätssuche. Geschichtssuche. Und manche möchte man gerne hauen.

Das lassen wir jetzt aber sein. Hauen ist keine Simulation. Hauen ist nicht postmodern. Taugt Hauen zur Dekonstruktion? Würden Benny Profane und Herbert Stencil hauen? Ja. Unbedingt. Aber nur, wenn sie achtmal zulangen dürfen. Die Ohrfeigen müssen dabei eine Ausgangsfrequenz von acht Oktaven erreichen. Oktaven, die anschließend von Ornette Coleman, Thelonious Monk und John Coltrane entoktaviert werden. Greenwich Village, 1959. So rätselhaft wie der Herero-Aufstand, wie Zeichen an sich, wie ungestillter Durst nach fünf großen Glas Bier.

Entgrenzung. Totalität. Der Rausch als Rausch, nicht als Motiv. Die Verschwörung ohne Verschwörer. Das System als entropische Größe. Der dritte Satz der Thermodynamik. Der dritte Satz in »V.«, Kapitel 5: »Vielleicht war er faul, oder alt, oder blöde.« Elfriede Jelinek »strahlt vom Zentrum weg«. Oder es gibt kein Zentrum, ergänzt sie. Friedrich Kittlers Datenrückpeilung, Dietmar Daths Diktum (aus anderem Anlass, aber wie passend): »Er mag die Gegenwart nicht; sie ist ihm zu dumm und zu grausam.« Phantasmagorie, Kosmogonie, Leviathan, Klappentextquatsch. Michael Naumann. Rowohlt und die große Literatur. Geheime Treffen. Die SPD und der Tag der offenen Tür bei der Freiwilligen Feuerwehr Poppenbüttel. Parallelwelten, Wahnsinn, Stencil und Profane. Pynchon ist überall.

Hätte man an Weihnachten Zeit, so wartete hier viel Arbeit auf einen. So etwas will reflektiert, wenn auch nicht verstanden werden. Schöne Arbeit. Hat man aber nicht. Die Kinder werden anderes verlangen. Bücher über Baggerführer. Vielleicht Erich Kästners »Das doppelte Lottchen«. Sicher: »Conni geht zum Zahnarzt«. Gute Bücher, wichtige Bücher, realistische Bücher. »V.« kann warten.

Maik Söhler über Thomas Pynchons »V.« und Liane Schneiders und Eva Wenzel-Bürgers »Conni geht zum Zahnarzt«

 

Gepriesen sei der Wurm

Haben Sie auch schlechte Erfahrungen mit Menschen gemacht, die sich ein Buch von Ihnen ausleihen und es nie wieder zurückgeben? Ich bin einer dieser Menschen. Allerdings möchte ich betonen, dass ich es nur ein einziges Mal tat und für meine Handlungsweise gute Ausreden vorbringen kann. Es begab sich nämlich so:

»Give me all your money«, forderte der Gambier am Strand nahe Banjul. Eigentlich sagte er »Muuni«, doch schien es nicht ratsam, den mit einem recht langen und rostigen Messer bewaffneten, von drei Kollegen begleiteten Mann auf seinen Fehler aufmerksam zu machen. Ohne »Muuni« war es uns vorübergehend versagt, die reizvollen Bierschwemmen Banjuls aufzusuchen. Dumpf dröhnten die Trommeln aus dem nahen Palmenhain, bearbeitet von Touristen, denen Rhythmusgefühl und Ehrfurcht vor diesen einstmals heiligen Instrumenten fremd waren. Des Betrachtens der träge über die Bretterwände unserer Absteige krabbelnden Kakerlaken müde geworden, entschied ich mich zu lesen. »Du hast da doch noch dieses Buch von dem irren Brasilianer«, sagte ich zu mir selbst, und so nahm das Schicksal seinen Lauf.

Sie finden, ich schweife ab? Damit wären wir dann doch beim Thema, denn auch Bras Cubas schweift bei der Erzählung seines Lebens häufiger ab. Eigentlich schweift natürlich Machado de Assis ab, der Autor, der übrigens nicht irre, sondern ein seriöser und angesehener Mann war, Präsident der brasilianischen Literatur­akademie. Lassen Sie sich davon nicht abschrecken.

»Die nachträglichen Memoiren des Bras ­Cubas« zeichnen sich dadurch aus, dass sie von jemandem aus dem Grab erzählt werden, was Ehrlichkeit und eine gewisse Reife der Lebensbetrachtung ermöglicht, während heutzutage ein jeder glaubt, sein vermeintliches Leben erzählen zu müssen, kaum dass er sich das erste Mal rasiert hat, und dabei alle Peinlichkeiten seines Daseins auslässt. Stellen Sie sich einfach vor, Schopenhauer und Cervantes hätten zusammen ein Buch geschrieben. Oder Kafka und Pitigrilli. Sie kennen Pitigrilli nicht? Dann seien Sie mir dankbar, dass ich Ihnen in diesem Text gleich zwei wertvolle Tipps gebe, die Ihr Leben bereichern.

Aber zurück zu Bras Cubas. Dieses tiefsinnige, melancholische, ironische und ein wenig morbide Werk ist recht sprunghaft, weshalb gar nicht erst versucht werden soll, seinen Inhalt wiederzugeben. Ohnehin lesen allzu viele Menschen Literaturkritiken nur, weil sie mitreden, das betreffende Buch aber nicht lesen wollen, und dieser Unsitte soll hier nicht Vorschub geleistet werden. So viel sei aber doch verraten: Es geht auch um Liebe. Aus der illusionslosen Sicht eines Toten fällt die Sicht auf diese Thematik allerdings nicht mehr allzu romantisch aus. Rostige Messer, Trommeln und Touristen dagegen tauchen in diesem Buch nicht auf. Wenn Sie nun auch noch wissen wollen, warum der Wurm gepriesen sein soll, müssen Sie es schon kaufen. Leihen werde ich es Ihnen jedenfalls nicht.

Jörn Schulz über Joaquim M. Machado de Assis’ »Die nachträglichen Memoiren des Bras Cubas«

 

Letzte Zuflucht vor Weihnachten

Weihnachten ist jene Zeit des Jahres, in der die christliche Unkultur ihr verkitschtes Haupt erhebt und zwischen Familienschmaus und Bescherung die abstoßende Wahrheit hinter dem populistischen Gerede von der »Nächstenliebe« ans Tageslicht tritt. Alle, die Ohren haben zu hören und Augen zu sehen, fühlen jetzt vor allem eines: die moralische und ästhetische Notwendigkeit, sich so entschieden wie möglich von all dem zu distanzieren. Frustriert legen sie selbst Nietzsches »Antichrist« beiseite, weil im Akt der Verneinung das infame Verneinte noch allzu gegenwärtig ist. Es bleibt nur ein Ausweg, nämlich der in die ferne vorchristliche Vergangenheit. In diesem Falle suche ich Zuflucht beim »größten Denker des Altertums« (Marx), bei Aristoteles, genauer: in der »Nikomachischen Ethik«.

Wie viel hat »der Philosoph«, wie er im Mittelalter schlicht genannt wurde, heutigen Ethikern voraus! Dass Moral ein gesellschaftlich und historisch bedingtes Phänomen ist, war ihm selbstverständlich, während man seit Kant nach überzeitlichen »moralischen Gesetzen« oder gar nach »moralischen Tatsachen« sucht und politische Theorie daher für eine gänzlich andere Baustelle hält. Für den platten und undialektischen Gegensatz »egoistischen« und »altruistischen« Handelns, der christliche und postchristliche Moralisten so ungemein beeindruckt, hatte der »Denkriese« und »geborene Dialektiker« (Marx) nur Spott übrig. Er führte ihn auf die Unfähigkeit zurück, höhere als die vulgärsten Güter überhaupt als solche zu erkennen.

Wer zur Minderheit der nicht regressiven Linken gehört, kann bei Aristoteles wenn schon nicht Trost, so doch Verständnis finden. Man kennt die erbärmlichen, unfruchtbaren und ohne Rücksicht auf Verluste geführten Gesinnungskriege, deren vielleicht grausamste Momente die sind, in denen der filigrane, subtile und sensible Adorno von seinen angeblichen Jüngern mit jenem stumpfen, rostigen Schlachtermesser ausgeweidet wird, das sie, die Hüterinnen und Hüter des vollautomatisierten guten linken Gewissens, für das Skalpell ihres scharfen Verstandes halten. »Wie konnte das geschehen?« ruft man in den Wald und rupft sich die Haare aus. Aristoteles formuliert mit seiner »gewaltigen, Jahrhunderte durchtönenden Stimme« (Marx) die bittere Wahrheit: Ein gutes Urteilsvermögen erfordere eine gründliche Ausbildung. Und deshalb »sind junge Menschen keine geeigneten Hörer der politischen Wissenschaft. Denn sie sind unerfahren in den Handlungen, in denen das Leben besteht; diese aber bilden gerade den Gegenstand und Ausgangspunkt der Untersuchung. Ferner wird für sie, die dazu neigen, ihren Affekten zu folgen, das Zuhören vergeblich und nutzlos sein; denn Ziel der politischen Untersuchung ist ja nicht das Erkennen, sondern das Handeln. Dabei ist es gleichgültig, ob sie jung an Jahren oder unreif im Charakter sind; ihre Unzulänglichkeit hängt nicht von der Zeit ab, sondern ergibt sich daraus, dass sie vom Affekt geleitet leben und auf diese Weise ihre jeweiligen Ziele verfolgen.«

Oliver Schott über Aristoteles’ »Nikomachische Ethik«

 

Aus Sounds wird Spex und später FDP

Weihnachten in Bohemia. »Sexbeat«. Diedrich Diederichsen verfasste 1985 eine Art Bibel für den intellektuellen Arbeitslosen mit Popappeal. Glamour. Kirche von unten. Sex von hinten. Und von vorne. Geschlechterübergreifend. LSD: mit dem Wissen um Grateful Dead. Seite um Seite. Second Order-Pop: vom very chicen Pul­lun­derdoktor (Scritti Politti) zum Rastafari-Funky-Plastik-Pop (Culture Beat). Und immer wieder leuchten die Sterne. Und immer wieder neue Texte. Und immer wieder hört man Roxy Music. Oder Dexy’s Midnight Runners: searching for the Jan-Delay-Rabatzkapelle. Die ersten Hip-Hop-Kratzer folgen. Cooler als der Mainstream. Hey! Wir entern das System. Und fangen in Popland an: das kleine ABC. Die großen Heaven 17. Aber schaut her. Da kommt sie! Die Königin! Was für eine Schönheit: Madonna! Und Second-Order-Bohemia ist über Nacht verraten und verkauft. Aus Sounds wird Spex und später FDP. Da hat Madonna aber längst ihre ersten, moralinsauren Kinderbücher verkauft. Aber, dem Teufel sei Dank, taucht zwischendrin der Gun Club auf – und Jeffrey Lee Pierce lässt Iggy Pop noch viel, viel blasser aussehen. »We can fuck forever, but you will never get my soul«. Alles wieder offen! Besonders gut zum stets gewöhnungsbedürftigen Weihnachtsfest, egal in welcher Konstellation, passt das 2002 im Bohemialand Berlin von Diedrich »Double-D« Diederichsen verfasste, selbstreflexive Vorwort der aktuellen Neuausgabe. Es ist eine Beichte: für teilweise recht merk­würdige, vielleicht sexistische Textpassagen, und dafür, dass man eben nie so genau weiß. Menschliches: allzu Postmodernes. Das perfekte Weihnachtsgeschenk für das viralste und sichtbar-unsichtbarste Weihnachten, das es je gab. Bestimmt. Oder wissen Sie noch, wann das war: die ersten Google-Schneeflocken? Der persönlich erste Roboter-Geschenktipp (»Kunden, die das kauften, kauften auch das«), dem man folgen konnte und auch tatsächlich wollte? Allein schon wegen Pay-Pal. Das alles konnte Diederichsen ja damals gar nicht wissen. Er hat seine Texturen noch in Post-Jack-Kerouac-Manier zwischen Hamburg, New York und Köln in eine IBM-Schreibmaschine gehackt. Dieser Thomas Mann der Postmoderne. Nein, wir müssen in Vielheiten denken. Also nochmal von vorne: Diedrich Diederichsen ist ein Mann der Postmoderne. Und »Sexbeat« ist eines von vielen Büchern darüber. Aber doch ein Hauch von Individualität: sein Schreibstil, die schon damals vorhandene, ruhige Nervosität, die heute in uns allen wohnt. Mein Handy klingelt. Millionen Angstverarbeitungsprozesse im Kopf. Aber nur noch selten Hunger im Bauch. Die Texte funktionieren wie ein Döner-Sandwich. Sie ummanteln Massenware. Und die individuelle Saucenauswahl. In meiner Heimat in der westfälischen Provinz gab es Ende der neunziger Jahre die erste Döner-Imbissbude. Meine Eltern haben bis heute noch nie einen Döner Kebap probiert. Merkwürdig: Ich habe sie nie gefragt, warum.

Zurück zur Gans: Dietmar Dath, die Verbrecher­bücher, I-Tools – all das kam erst nach »Sexbeat«. Was vor uns liegt, liegt eben irgendwie auch immer schon hinter uns. Nur der Abstand zwischen den Ereignissen wird immer kleiner. Und irgendwann: ein Knall! Aber das ist eine andere Geschichte. Dem Weihnachtsmann sei Dank gibt es Planeten und Planetenbewohner. Und diese eine geschmückte, leuchtende Tanne, um die sich unsere Planetenbewohner Jahr für Jahr interstellar versammeln. Nein: viele davon. Und dazwischen? Ist nichts.

Maurice Summen über Diedrich Diederichsens »Sexbeat«

 

Zwei Augen im Gedicht

Das Buch ist ein Adventskalender, hinter jedem Türchen eine Überraschung. Hier »schaut aus dem goethe schiller, aus dem der steiger steigt«. Das ist der Autor, Dominik Steiger, er schillert. Siehe, da tritt »ein bildschöner stier aus einer verborgenen tapetentür«. Dort wiederum erscheint »auf der zimmerdecke eine tür«, dahinter, hochwillkommen, der »kellner mit dem alten wein«, und solche Überraschungen zuhauf. Manche sind auch ein wenig gruselig.

»es klopfte an der tür, sehr früh; die nacht war noch im hemd. wieder klopfte es, ich ging und öffnete. ein schlanker blauwässriger körper stand vor mir, die augen geschlossen.« Der Steiger bittet den »nassen gast« sogleich zu Tisch. Wie einer, der daheimbleibt, das Fürchten zu lernen, lässt der Hausherr die wunderlichsten Gäste ein. »es klopft. wer da? ein samniter antwortet.« Dabei gilt das Bergvolk der Samniter seit langem als ausgestorben. Also nur herein, herein. »wenn jeder gelehrte sich so leicht schrecken liesse … « Dieser betrachtet in Ruhe, wie sich direkt »neben der vase« die Seele der Frau vergegenständlicht oder sich »bläschen von seele« am feuchten Maul des Kalbs bilden, er zieht auch ein wenig am Elastikon (dem Expander) der Seele. Überhaupt ist dieser Gelehrte und Dichter ein großer Seelenkundler und auch sonst sehr erfahren.

Schnelle Mongolen oder ein schüchternes Franzosenmädchen, Lapplandsperlinge oder Sonderbärchen, er ist mit allem wohl vertraut, was fleucht und kreucht, und seine Kinder vertraut er »treuen wölfen« an. Durch die Westentaschen galoppiert, als ob es Westerntaschen wären, ein Cowboy, an der Wand hängt ein Bild von der Hand, die winkt, in Freiburg im Breisgau lebt ein Mann, der so dick ist, dass sein dunkelblaues Auge das Fenster ganz ausfüllt.

Wer so phantastische Erlebnisse berichten kann, der überrascht uns nicht mehr mit der Feststellung, »dass wir im himmel verwandte haben« oder ein böhmischer Ahn seine Auferstehung beschlossen hat. Wer sollte das wissen, wenn nicht Dominik Steiger? Wo andere nur dumm glotzen, hat er »zwei augen im gedicht«. Sogar seine Gedichte können sehen, aber nicht alles. »unter dem kastanienbaum vor dem fenster war geschehen wie geschrieben steht im buch des lebens: zur welt komme. ich war leider nicht dabei.« Der Steiger ist selbst ein Geist. Zur Welt kommt er schon manchesmal, aber nicht jeder erkennt ihn, und gleich darauf verflüchtigt er sich auch wieder, mir nichts, dir nichts. Sein Geheimnis ermittelt einer mit der handelsüblichen Hermeneutik nie und nimmer. Manchmal murmelt es wie aus manischen Märchen, manch­mal torkeln Gestalten aus Hausbibel und Enzyklopädie. Manchmal hört er aufs Wort, »vom meer war nur ein miauen zu hören« (eine Meerkatze!, ruft meine Freundin), manchmal träumt er noch um die Mittagszeit unerschrocken weiter. Wie auch immer, es geistert hinter jedem Türchen und spukt auf jeder Seite.

Stefan Ripplinger über Dominik Steigers »mon dieu es geistert«

 

Musik statt Selbstmord

Weihnachten ist das Familienfestspiel schlechthin. An keinem Datum des Jahres wird man so stark auf das Gruppenerlebnis Mensch verwiesen. Alleinlebende mögen sich verkriechen und im Exil abwarten, dass diese Tage vorbeigehen. Weihnachten ohne Idyll mit Kindern, heiligen Königen, Ochs und Esel, das kann ganz schwer werden. Ist Weihnachten also nicht die beste Zeit für den Selbstmord?

»Der Mensch ist ein soziales Wesen«, lautet einer der wenigen überlieferten Sätze des Lebens­philosophen schlechthin, Epikur. Damit ist die Gefahr, in der Einsamkeit vor die Hunde zu gehen, hinreichend umschrieben. Die Kur ist der Tod, vor dessen Hintergrund das Leben zu betrachten ist. Im Tod ist jeder Mensch einsam, und die Leiden des Lebens können daher ertragen werden. Was sind Schmerzen gegen das Nichtsein? Ein anderer Satz Epikurs lautet: »Lebe zurückgezogen.«

Wenn man so geartet den Tod im Kopf hat, kann man sich getrost in sich zurückziehen und nicht in die Familie, die man vielleicht nicht hat. Man könnte nichts tun – oder ein wunderschönes Selbstmörder-Buch lesen, wie es die »Tagebücher« des Nirvana-Sängers Kurt Cobain sind.

Cobain und der ganze Grunge-Hype sind oft kritisiert worden – Punk ohne Revolte, nix als große Fresse usw. Aber mit Grunge ist eine große Menge sehr guter Musik entstanden. Und einer der besten, weil eigensinnigsten Musiker war Kurt Cobain. Ein armer kranker Mann: Weil er fortwährend an grässlichen Magenschmerzen litt, begann er, sich mit Heroin zu therapieren. Zudem war Cobain manisch-depressiv, eine Erkrankung, die einen vom Größenwahn in die tiefste Verzweiflung führt. Cobain gibt selbst viele Hinweise darauf, eines seiner Lieder heißt »Lithium«, wie das Medikament der zweiten Wahl in diesem Fall.

Musik ist – in der Einsamkeit – das Wichtigste. In den Tagebüchern gibt er Auskunft über ihre Produktion. Auf Seite 107 schreibt er: »Der König der Worte ist Alles. Ich kann nur ficken und singen.« Was vielleicht nicht so wenig ist – viele Leute können weder das eine noch das andere. Cobain zieht viel Selbstbewusstsein aus seinem Dasein als Musiker.

Aber er kann auch stocksauer werden. »Die haarigen verschwitzten Macho-Schwanzgesichter werden bald in einem Meer von Rasierklingen und Samenflüssigkeit ersaufen!« weiß er über die Manager der Musikindustrie.

Nun gut, die kann man sich irgendwann vornehmen. Ich musste letztens an das Buch denken, als ich einen Geschenkgutschein einlöste. Er belief sich auf vier Stunden Gesangsunterricht bei einer ausgebildeten Konzertsängerin. Sie machte ein paar schöne Übungen mit mir. Ich konnte deswegen nicht besser singen. Aber es war, als habe sie die Stimme von Mono auf Stereo gestellt.

Was ich mir jetzt von euch wünsche, die ihr vielleicht in eurer bewussten Zurückgezogenheit in Selbstmordgedanken schwelgt, ist: Lest die Tagebücher Cobains und veranstaltet ein Experiment an euch selbst. Führt eine psychische Verschiebung durch. Anstelle des Suizidbegehrens tritt ganz langsam, aber sicher das Begehren, Musik zu machen. Von Mono auf Stereo. Soziales Wesen links, Einsamkeit rechts. Und verschenkt zu Weihnachten Gutscheine für Gesangsunterricht.

Kann man so zu sich selbst finden? »Niemand ist anders genug«, schreibt Cobain, »um das zu beantworten.«

Jürgen Kiontke über Kurt Cobains »Tagebücher«

 

Hoch stapeln

In meinem Elternhaus befanden sich im Bücherregal etwa 20 Bücher. Die Hälfte davon waren solche, mit deren Hilfe man die deutsche Sprache erlernen konnte, darüber hinaus gab es ein paar Konsalik-Romane, einen Atlas und den »Germinal« von Emile Zola. Wie der dort hingekommen ist, wussten meine Eltern allerdings auch nicht, geschweige denn, dass sie ihn gelesen hätten.

Da meine Eltern mir nicht sagen konnten, was ich lesen sollte, um es einmal besser zu haben als sie, schickten sie mich in den »Bücherbus«, eine mobile Bibliothek, die einmal wöchentlich vor der Kirche unseres Dorfs Station machte. Dort entschied ich, dass es mir mit der Lektüre von »Lucky Luke«, den »Drei Fragezeichen« und »TKKG« außerordentlich viel besser ergehen würde als meinen Eltern. Doch eines Tages hatte ich schließlich alle Comics und einschlägigen Bücher durch und wagte mich in den Teil des Busses, in dem die Bücher standen, die für die Erwachsenen vorgesehen waren.

Das meiste davon sah langweilig aus, und die Titel klangen auch so. Doch plötzlich entdeckte ich einen Titel, der dem, was ich bisher über flüsternde Mumien, sprechende Totenköpfe, Zauberspiegel und Phantome auf dem Feuerstuhl gelesen hatte, recht nahe kam: »Die Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull«. Das hörte sich zwar nicht so aufregend an wie meine bisherige Lektüre, aber vielversprechender als »Emilia Galotti« oder »Gruppenbild mit Dame«. Ich lieh das Buch und las es mit Begeisterung, obwohl ich kaum verstand, worum es ging oder was die vielen schön klingenden Sätze eigentlich bedeuteten. Doch so viel verstand ich: Die meisten Figuren in diesem Buch kapierten auch nichts von dem, was der Held ihnen erzählte. Gerade das schien aber das Geheimnis seines Erfolgs zu sein. Dank seiner vornehmen Wortwahl, seinen hinreißenden Satzkonstruktionen und seinem phantastischen Talent, aus aufgeschnapptem Halbwissen großartige Geschichten zu machen, gewinnt er die Herzen reicher Damen und den Respekt reicher Herren. Ohne große Schulbildung und ohne viel Arbeit schafft er es, durch seine bezaubernde Schwindelei in das köstliche Vergnügen eines luxuriösen Lebens zu kommen, wenigstens so lange, bis der jeweilige Schwindel auffliegt und er sich in ein neues Abenteuer stürzen muss.

Viel später einmal versuchte ich, die »Bekenntnisse« des Augustinus zu lesen, weil ich mir eine ähnlich verzückende Wirkung wie bei der Lektüre der Bekenntnisse Felix Krulls erhoffte. Sicherlich bieten die augustinischen Bekenntnisse viel profundere Erkenntnisse über Leib und Seele des Menschen, und ob Thomas Manns Roman wirklich gute Literatur ist, kann ich nicht beurteilen, ich habe ihn nie wieder gelesen. Aber es bleibt für mich das Buch, mit dem ich zwei grundlegende Dinge zu verstehen begann. Zum einen, wie scheinheilig die bürgerliche Welt ist, und zum anderen, dass man auch ohne Maloche zu Geld kommen kann.

Ich kann es nur jedem als Ratgeber empfehlen, der seiner bescheidenen Existenz ein Ende machen will. Denn niedrig stapeln ist was für scheinheilige Angeber mit dicker Brieftasche. Hoch stapeln ist großer Spaß zum kleinen Preis, auch wenn es zum jähen Fall führen kann.

Doris Akrap über Thomas Manns »Die Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull«

 

Kleine Nachbeben

Das Buch, das mir eine Weihnacht gerettet hat, war »Der Mann ohne Eigenschaften« von Robert Musil. Ich hatte von dem Buch im Rowohlt-Katalog gelesen, genauer: ich hatte nur den Buchtitel gefunden. Ich war 17, das Internet war noch nicht erfunden, und dort, wo es doch schon erfunden war, war es noch nicht voll. Sondern leer. Es hätte mir also auch nicht helfen können. Ich wusste nicht, wer und was dieser Musil war, aber der Buchtitel nahm mich gefangen. Also, dachte ich, der ich erst vor wenigen Monaten vom einfachen Leser zum Süchtigen mutiert war, auch dessen Bücher musst du lesen. Den »Mann ohne Eigenschaften« zuerst, aber: er kostete 50 Mark, in der Taschenbuchausgabe. 50 Mark, weiß die Oma, war damals, 1987, viel Geld. Ich musste mich also an Robert Musil heranpirschen. Folglich fragte ich meinen Freund L., ob sein Vater vielleicht ein Buch von Musil besitze, in das ich hineinlesen könne. Der Vater von L. war Gymnasiallehrer und belesen. Er hatte »Die Verwirrungen des Zöglings Törless« und entlieh das Buch auch an den Freund seines Sohnes, allerdings nicht ohne Kommentar. »Das muss man nicht lesen, sagt mein Vater«, sagte L. triumphierend, als er mir das Buch in die Hand drückte, eine Ausgabe aus den sechziger Jahren. Was L.s Triumph geschmälert hat, was er aber nicht wusste: Darinnen lag ein Liebesbrief, frei von Obszönitäten, trotzdem peinlich intim, die Mutter von L. hatte diesen seinerzeit an ihren späteren Gatten geschickt. Schön. Der »Törless« war auch schön. Und wer nicht hat, lässt schenken. Also fand sich am Heiligabend, neben einem Haufen mehr oder minder geliebter Kleidungsstücke und ein paar Büchern auch der »Mann ohne Eigenschaften« in zwei Taschen­buchbänden unterm Tannenbaum. Ich war sehr gespannt. Und während die Weihnacht ansonsten zuging, wie die Weihnacht zugehen sollte, also mit Feierlichkeit, Feierlichkeit, Feierlichkeit, lag ich auf dem Teppich in unserem Wohnzimmer und las. Ich las am ersten Weihnachtstag, und ich las am zweiten, und dann las ich noch gut einen Monat an dem Roman mit seinen über 2 000 Seiten, und ich gehöre zu denen, die auch die Fragmente und Entwürfe gelesen haben. Ich habe selbstverständlich kaum etwas verstanden von der Möglichkeitstheorie, den Zuständen in Kakanien, den inneren Konflikten. Das, was ich verstanden habe, hat mich allerdings sehr beflügelt, auch das, was ich falsch verstanden habe. Und selbst jetzt, 20 Jahre später, verspüre ich, wenn ich an den Roman denke, in dem ich immer wieder herumgelesen, den ich aber nie wieder durchgelesen habe, kleine Nachbeben jenes Glücksgefühls, das ich damals verspürt habe. Dabei habe ich mich längst von Musil distanziert, in vielerlei Hinsicht, und kann den kakanischen Herrenreiter nicht mehr so abgöttisch lieben, wie ich es mit 17 tat. Trotzdem musste ich mir die Werkausgabe und allen anderen Quatsch besorgen, und auf die Ausgabe aller Fragmente aus dem Nachlass, die für 2012 angekündigt ist, warte ich auch schon. Vielleicht wünsche ich sie mir zu Weihnachten.

Jörg Sundermeier über Robert Musils »Der Mann ohne Eigenschaften«

 

Etwas so Unnötiges wie die Liebe

Wie, frage ich mich, während ich darüber nachdenke, warum gerade eben dieses Buch eines mei­ner allerliebsten ist, wie kann man von Sätzen wie den folgenden nicht vereinnahmt werden?

»Ihr Lachen endet in trockenem Husten, am Kinn klebt Speichel, die klobige Nase ist mit Mitessern punktiert wie ein Kiebitzei. Warum bist du so geworden! Gilgi sieht zackige, rote Buchstaben in grauem Nebel: Mensch, was machst du mit deinem Leben! Sie regt sich nicht, sie spricht nicht – was ist noch zu sagen? – sie wartet nicht. Sie ist ein Ausrufezeichen hinter roten Buchstaben: Mensch, was lässt du aus deinem Leben machen!«

Natürlich könnte man dieses Buch analysieren, ich könnte mehr oder minder kluge Sachen dazu schreiben, warum ich ausgerechnet »Gilgi, eine von uns« so großartig finde. Ich könnte etwas über die dreißiger Jahre schreiben, in denen die Autorin, Irmgard Keun, im Alter von nur 21 Jahren dieses Buch schrieb. (Ein Alter, in dem ich furchtbares Tagebuchgeschwätz, Liebesbriefe und Einkaufszettel schrieb. Sonst nichts.) Das haben aber andere schon ausgiebig gemacht. Mich macht es einfach glücklich, wenn ich lesen darf, wie Gilgi, die bislang daran glaubte, dass das Leben etwas Glattes und Einfaches sei, das man am besten ganz und gar mit dem eigenen Willen formen und gestalten sollte, und die allen, die das anders sahen, eine so schöne Verachtung und Arroganz entgegenbrachte, plötzlich selber nicht mehr ganz Herrscherin ihres Lebens ist, weil etwas so Unnötiges wie die Liebe die eigene Perfektion zerstört und ihr diese Selbstauf­lösung auch noch Vergnügen bereitet.

»Und Gilgi schwimmt im Strom der überflüssigen Gefühle. Überflüssig? War’s einmal, schien’s einmal. Ist sie nicht glücklich? Doch. Oft. Aber die glücklichen Stunden sind teuer. Prompt wird die Rechnung präsentiert. Bezahlen! Womit? Mit Angst und kleinen Schmerzen. Nein, der Preis ist mir nicht zu hoch, find nur die Münze merkwürdig. Angst-Schmerz! Wem zahl ich? Wer gewinnt durch diese komische Münze? Ich bin mir unsagbar zuwider. Nichts ist mehr sauber und klar und einfach, nicht einmal mehr mein früheres Leben. Vielleicht war alles, was man tat und wollte, nur Flucht vor – dem eigenen Begehren. Vielleicht ist alles Unwahrheit, und alles geschieht nur um dieser Flucht willen …«

Und wenn man dann dabei ist, wenn Gilgi kaum herausfindet aus dem Strudel aus Schuld und Schwäche und eigener Unzulänglichkeit, den man Leben nennt, wie sie sich selbst analysiert und plötzlich Teil dieser Menschenmasse ist, dann kann man kaum anders, als diesen langen inneren Monolog, aus dem das Buch besteht, zu lieben.

»Gilgi schließt die Augen. Und jetzt dringt alles in einen hinein – dringt Geruch in einen hinein – Menschen in einen hinein – Raum in einen hinein. Man schmilzt auf in ungesichtiger Menge – was ist man jetzt noch? Das, was im Raum ist: summende Hoffnungslosigkeit, gebrochenes Wollen ohne Wunschkraft – gestorbenes Warten ohne Worauf – Tappen in Tage – Ruhen im Gestern – keine Kraft zum Morgen –ausgeschlossen aus Gemeinsamkeit – herausgedrängt aus dem Kreis – in andere unerwünschte Gemeinsamkeit gedrängt – Abfallszufriedenheit.«

Wer will solchen Beschreibungen widerstehen? Ich nicht.

Sarah Schmidt über Irmgard Keuns »Gilgi, eine von uns«