Wahlkampf ohne Kopftuch

Bei den Demonstrationen im Frühjahr war Istanbul in ein riesiges Meer von türkischen Nationalflaggen gehüllt. Am Sonntag bot sich in der Stadt dasselbe Bild. Während es sich vor ein paar Monaten mehrheitlich um die Anhänger der kemalistischen CHP handelte, waren es vor ein paar Tagen mehrheitlich die Anhänger der islamisch-konservativen AKP, die ihre Liebe zum Vaterland demonstrierten. Bei den Parlamentswahlen am kommenden Sonntag rechnen beide Fraktionen mit einer Stimmenmehrheit für ihre Partei. von sabine küper-büsch, istanbul

Kadiköy ist ein beliebtes Geschäfts- und Wohnviertel der gehobenen Mittelschicht auf der asiatischen Seite Istanbuls. Die Bevölkerung des Stadt­teils ist traditionell links-kemalistisch eingestellt. Obwohl die islamisch-konservative Regierungspartei für »Gerechtigkeit und Entwicklung« (AKP) sowohl die Oberstadtverwaltung Istanbuls als auch die meisten Stadtteilverwaltungen stellt, regiert in Kadiköy seit eh und je die kemalistische »Republikanische Volkspartei« (CHP).

Die Kommunikationswissenschaftlerin Edibe Sözen läuft energisch durch eine der großzügigen Einkaufsstraßen. Ein Tross von Wahlhelfern umschwärmt sie und verteilt Handzettel. Auf denen ist zu lesen, dass Edibe Sözen Professorin an der Universität Istanbul ist, eine Zeit lang in den USA gelehrt hat und für eine Studie über die dritte Generation von Migranten in Holland, Deutsch­land und Österreich mit einem Forschungs­preis der Stadt Ludwigshafen ausgezeichnet wurde. »Ich habe viel Arbeit vor mir hier in diesem Viertel«, erklärt die 48jährige mit dem ernsten Gesicht und dem strengen beigefarbenen Kostüm. Als Newcomerin in der AKP hat sie es weit nach vorne geschafft. Sie steht an dritter Stelle auf der Kandidatenliste und wurde im Herbst 2006 als Medienberaterin von Ministerpräsident Recep Erdogan in den Parteivorstand gewählt. Die Professorin soll in den von der gehobenen Mittelschicht bewohnten Stadtvierteln wie Kadiköy das moderne Image der Partei repräsentieren.

Auf die Frage, welche Haltung sie zu den verpatzten Präsidentschaftswahlen einnimmt und ob das Kopftuch der Ehefrau des Kandidaten Abdullah Gül der Grund für die Putschdrohungen des Generalstabs im April war, gibt sie eine komplexe Antwort. Edibe Sözen würde niemals auf die Idee kommen, selbst ein Kopftuch zu tragen. Als Wissenschaftlerin hat sie sich ausgiebig mit der Rolle der Emanzipation der türkischen Frau im Modernisierungsprozess der Türkei beschäftigt: »Um die Jahrhundertwende kam es zu öffent­lichen Schleierverbrennungen in Istanbul, Beirut und Teheran. Die gebildeten Frauen solidarisierten sich mit ihren um ihr Wahlrecht kämpfenden Schwestern in Europa.« Staatsgründer Atatürk un­terstützte die Bewegung der osmanischen Frauen­bewegung und verordnete den Frauen im öffentlichen Dienst moderne Kleidung. Das ermöglichte den Frauen der Oberschicht damals eine Teilnahme am öffentlichen Leben. »Gleichzeitig manifes­tierte sich die heutige Praxis, mit der Kleidung der Frauen Politik zu machen«, merkt Sözen an. »Und das möchten wir eben nicht aufgreifen.« Tatsächlich unterscheidet sich die AKP in diesem Punkt mittlerweile von der islamisch-konservativen Bewegung. Das Kopftuch ist nicht mehr Wahlkampf­thema, und auch auf den Veranstaltungen der Parteifrauen sieht man verschleierte und unverschleierte Frauen etwa zu gleichen Anteilen.

Auch wenn die Mehrheit der Partei die Ansicht teilt, dass das Verschleierungsverbot liberalisiert werden sollte, widmen sich die Frauen in der AKP inzwischen anderen Themen als Schwerpunkt und bilden eine aktive Plattform, die keine der anderen Parteien vorweisen kann.

So setzte die Regierung eine Untersuchungskommission aus Parlamentarierinnen ein, die den Ursachen für die in der Türkei nach wie vor steigende Gewalt gegen Frauen und Kinder nachgehen sollte. Die Kommission kam zu dem Ergeb­nis, dass zwischen der durch die fast 15 Jahre Krieg mit der PKK entstandenen Verarmung des vor allem von Kurden bewohnten Südostens der Türkei und der Gewalt in den Familien ein Zusammen­hang besteht.

Die daraufhin verstärkten entwicklungsfördernden Maßnahmen in der Region und die diskriminierenden Aussagen von Vertretern der CHP und des Militärs, wie die des Hürriyet-Chefredakteurs Ertugruk Özkök, dass Ehrenmorde »ein kur­disches Problem seien«, verhalfen der AKP dazu, sich als pragmatische Volkspartei darzustellen. Erdogan verkündete sogar, das »Staatsvolk der Türkei« bestehe aus Türken und Kurden. Zudem wehrt sich die Regierung seit Monaten, dem Mili­tär grünes Licht für einen Einmarsch in den Nord­irak zu geben. Zumindest die kurdische »Partei für eine Demokratischen Plattform« (DTP) schenkt dieser Haltung großes Vertrauen und ebnet den Weg für eine Annäherung. »Wenn die Sitze der AKP für die Regierungsbildung nicht ausreichen«, sagt Ahmet Türk, der für die DTP als Unabhängiger antritt, »werden wir eine Minderheitsregierung Erdogans tolerieren.«

Aus all dem ist ersichtlich, dass sich die alten politischen Fronten in der Türkei derzeit neu formieren. Die aus einem Demokratisierungsprozess der islamischen Bewegung entstandene AKP betreibt eine europa-nahe Reformpolitik, während die einst von Atatürk gegründete CHP und deren Medien mit antiquierten Anti-Impe­rialismus-Sprüchen den Status quo repräsentieren.

Außenminister Abdullah Gül sei eine Marionette der USA, und die EU trage Schuld am Bestehen des Kurden-Konflikts, weil sie »Terroristen unterstützt«, erklärt der CHP-Vorsitzende Deniz Baykal. Er kritisiert damit die in seinen Vorstellungen zu liberale Asylpolitik Europas.

Diese Entwicklung dürfte einer der Gründe sein, warum sich auch gebildete und weltgewandte Frauen wie Edibe Sözer für eine islamisch-konservative Partei engagieren.

Es mag auf den ersten Blick nicht verwundern, dass ausgerechnet die Konrad-Adenauer-Stiftung in Ankara die AKP als einzige Partei ansieht, die einen Anspruch darauf hat, sich Volkspartei zu nennen. Interessant ist aber, dass die politische Stiftung der CDU in einem Artikel zur türkischen Parteiendemokratie festhält, dass die AKP als islamisch-konservativ-demokratisch einzuschätzen sei, während die Oppositionspartei CHP zu einer radikal-nationalistischen Partei mutiere.

Das behauptet aber nicht nur die CDU. Der Politikwissenschaftler Umut Özkirimli untersuchte in den vergangenen drei Monaten seit der gescheiterten Präsidentschaftswahl 15 Reden des CHP-Parteivorsitzenden Deniz Baykal vor seiner Fraktion. In den Reden wurde 15 Mal der Begriff »Nationale Integrität«, 19 Mal die »Gefahr für das politische Regime«, 52 Mal »Terror«, 96 Mal »die Gefahren denen wir uns gegenübersehen«, und 191 Mal das Wort »Staat« benutzt.

Eine Stippvisite im Istanbuler Außenbezirk Ömerli bestätigt diese Einschätzung. Ömerli ist ein kleiner, armer Vorort mit einem Überhang an pauperisierter migrierter Landbevölkerung, Kleinunternehmern und Arbeitern. Der CHP-Abgeordnete Ali Topuz steht vor dem neu eröffneten Parteibüro und verkündet einer kleinen Gruppe von Zuhörern Verschwörungstheorien. Ihm zufolge droht die oligarchische Unterwanderung des Staats mit sich selbst bereichernden »Lumpen«, die das Land an die Ausländer verschachern. Es bestehe eine Situation wie während der Niedergangsphase des Osmanischen Reichs, als die europäischen Mächte die Türkei bereits unter sich aufgeteilt hatten. Damit meint er den derzeit an der EU orientierten Reformprozess in der Türkei. Zypern soll den Griechen geschenkt werden, im Nordirak droht das Erstarken des kurdischen Nationalismus, fährt er fort.

Eine Gruppe von Frauen mit steifen, verkniffenen Gesichtszügen nickt. Die latente Agressivität ist spürbar, die sich schon auf mehreren »Demonstrationen für die Republik« unangenehm zeigte. Sich in »Vereinen für das kemalistische Denken« und »für das moderne Leben« engagierende Kemalistinnen organisierten in den vergan­genen drei Monaten zahlreiche Großveranstaltun­gen, auf denen unter dem Banner der modernen Republik nationalistischer Fanatismus gepredigt wurde. Der Slogan »Wir sind alle Türken« konterkarierte die Solidarisierungsgeste mit dem ermor­deten armenischen Journalisten Hrant Dink, auf dessen Beerdigung die Teilnehmer auf einem Schild »Wir alle sind Armenier« bekundet hatten. Bei den Demonstrationen der Kemalistinnen wird die drohende Terrorgefahr beschworen, um die politische Opposition als unpatriotisch zu brandmarken.

Die CHP rückt damit immer mehr in die Nähe der ultranationalistischen »Nationalistischen Bewegungspartei« (MHP), die als dritter Favorit bei diesen Wahlen gehandelt wird. Die Partei prägte Ausdrücke wie »Liebe sie (die Türkei) oder verlasse sie«, ganz nach dem Vorbild des französischen Front National.

Bei diesen Wahlen wird es also neben der Macht­verteilung im Parlament auch stark um die Haltung gegenüber der EU gehen. Der Beschluss vieler Linker und Kurden, mit einer unabhängigen Kandidatur die Zehn-Prozent-Hürde bei den Wah­len zu umgehen, könnte allerdings zu einer interessanten Belebung der türkischen Demokratie beitragen. Dann wäre es denkbar, dass kurdische, linke und islamisch-konservative Politiker eine europa-nahe Koalition bilden, wie der Kolum­nist Gökhan Özgün von der Tageszeitung Radikal vergangene Woche prophezeite.