Vertauschte Rollen

Der Konflikt zwischen Islam und Nation. kommentar von jörn schulz

Was ist schlimmer, Gott oder das Vaterland? Die Auseinandersetzung zwischen Islamisten und Nationalisten prägt die meisten Gesellschaften des Nahen und Mittleren Ostens. Zunächst dominierte der Nationalismus als Ideologie einer Modernisierungsdiktatur mit starken staatskapitalistischen Elementen. Als aus der Bürokratie eine Staatsbourgeoisie geworden war und die ökonomische Entwicklung stagnierte, begann die Phase der Privatisierung.

Um den sozialen Unmut zu dämpfen, förderten die nationalistischen Herrscher einen reaktionären, oft fundamentalistischen Staatsislam. Das begünstigte die Islamisten, meist geführt von Mitgliedern der Mittelschichten, die der Oligarchie die Macht entreißen oder zumindest an ihr teilhaben wollten. Je einflussreicher die Islamisten wurden, desto stärker wurde in ihren Reihen die Bourgeoisie, die meist einen Kompromiss mit den Nationalisten befürwortet.

Bei den großen Organisationen führte das zu einer gewissen Mäßigung, wenigstens in der Rheto­rik. Die AKP gilt als Musterbeispiel für die Wandlung von Islamisten zu nationalreligiösen Konser­vativen. Allerdings war dieser Wandel wohl nur möglich, weil der politische Islam in der Türkei einige Besonderheiten aufweist. Seine soziale Basis waren vor allem Bourgeoisie und Kleinbürgertum der Dörfer und Kleinstädte, reaktionäre, aber behäbige Patriarchen, die weniger anfällig sind für ideologischen Wahn als die angry young men aus den Mittelschichten. Den wirtschaftlichen Interessen des provinziellen Bürgertums ist am besten durch den Beitritt zur EU gedient, der einen ideologischen Wandel erfordert (Jungle World 37/05).

In der Türkei, wo der politische Islam immer nationalistischer war als in der arabischen Welt, dürfte der ideologische Kompromiss nicht das zentrale Problem sein. Schwieriger ist der machtpolitische Wandel, denn die Offiziere, die dank einflussreicher Holdings auch eine wirtschaftliche Macht sind, sehen sich noch immer eher als Staatslenker denn als Staatsbürger in Uniform. Hinter den antiwestlichen Parolen der Nationalisten dürfte auch die Einsicht stehen, dass die staatskapitalistisch-mafiosen Wirtschaftsstrukturen den EU-Beitritt nicht überstehen würden.

Der Konflikt zwischen Nationalisten und Islamisten hat emanzipatorische Bestrebungen zeitweise fast vollständig verdrängt. Radikaldemokratische Forderungen, die nun erhoben werden, könnten ein erster Schritt sein, das zu ändern. Doch ohne Klassenkampf bleibt die gesellschaftliche Emanzipation ein Privileg der Mittel- und Oberschicht. In der Türkei könnte das dazu führen, dass in Zukunft die Nationalisten die Unterschichten gegen eine wirtschaftsliberale und prowestliche AKP mit reaktionärem Sozialpopulismus mobilisieren.