Um den Schlaf gebracht

Streikende Arbeiter ägyptischer Staatsbetriebe fordern gewerkschaftliche Rechte. Obwohl der Arbeitskampf illegal ist, reagiert die Regierung zurückhaltend. von jörn schulz

Hosni Mubarak müsste derzeit sehr müde sein. Der Präsident »kann nicht schlafen, wenn er weiß, dass auch nur ein Arbeiter unglücklich ist«, sagte Arbeitsministerin Aisha Abdel Hadi. Und dass sehr viele Arbeiter unglücklich sind, kann Mubarak schwerlich entgangen sein. Allein in der Textilindustrie streikten Zehntausende, aber auch bei der Eisenbahn, in Zement- und Lebensmittelfabriken traten Beschäftigte in den Ausstand.

Streiks sind in Ägypten illegal, es sei denn, sie werden von der Gewerkschaftsführung und vom Premierminister genehmigt. Schon die erste Hürde ist unüberwindbar. Der staatlich kontrollierte und einzige legale Gewerkschaftsverband GFTU hat seit seiner Gründung in den fünfziger Jahren keinen Streik seiner Mitglieder gut geheißen. Dennoch sind Arbeitskämpfe in Ägypten nicht selten. Meist handelte es sich jedoch um isolierte Streiks oder Protestaktionen, die von der Polizei relativ leicht niedergeschlagen werden konnten.

Als im Dezember vergangenen Jahres mehr als 20 000 Arbeiter der Textilfabrik Ghazl al-Mahalla den Betrieb und die angrenzenden Straßen besetzten, beschränkte sich die Polizei darauf, die Versammlungen zu überwachen. Die Streikenden forderten die Auszahlung einer ihnen versprochenen Prämie in Höhe von zwei Monatsgehältern, machten aber auch deutlich, dass sie mit dem Management nicht zufrieden sind. Bei den Demonstrationen wurden Särge mitgeführt, die der Name »al-Gibaly« zierte. Die Arbeiter werfen dem kürzlich ernannten Direktor Mahmoud al-Gibaly Korruption und Vetternwirtschaft vor.

Nach drei Tagen wurde den Arbeitern die Auszahlung der Prämie zugesagt. Der Ausstand wurde vorläufig beendet. Die Beschäftigten wollen al-Gibaly jedoch weiterhin loswerden, und sie sind auch nicht mehr bereit, sich mit der Scheinrepräsentation durch die GFTU abzufinden, deren Funktionäre sich einmal mehr mit dem Management solidarisierten. »Es werden nicht zwei oder drei Tage sein, es wird ein unbefristeter Streik sein«, kündigte Karim al-Beheiri, einer der Streikführer, an.

Der erfolgreiche Arbeitskampf ermutigte die Beschäftigten anderer Betriebe, ebenfalls ihr Glück zu versuchen. Die Streiks konzentrieren sich auf die Industriestädte des Nildeltas, die Forderungen in der Textilfabrik SSWC von Kafr al-Dawwar, wo seit Anfang Februar gestreikt wird, und anderen Betrieben sind ähnlich: Lohn­erhöhungen und Prämien, Schutz vor Arbeitsunfällen, bessere Sozialleistungen und eine unabhängige Interessenvertretung.

Die meisten Textilfabriken und auch viele andere Industriebetriebe sind noch in staatlichem Besitz. Der Grundlohn liegt bei 400 ägyptischen Pfund (umgerechnet 50 Euro), Prämien und betriebliche Sozialdienste sind daher keine großzügige Zusatzleistung, sondern lebensnotwendig für die Beschäftigten. Doch der Zustand der betrieblichen Gesundheitseinrichtungen ist meist erbärmlich. Die Modernisierung der Fabriken, mit der die Regierung die Privatisierung vorbereiten will, bestand bislang vornehmlich in Entlassungen. In Kafr al-Dawwar haben bereits 16 000 der einst 28 000 SSWC-Beschäftigten ihre Arbeitsplätze verloren.

Die meisten Streiks richten sich nicht in erster Linie gegen die bevorstehende Privatisierung, vermutlich weil das derzeitige ägyptische System die Nachteile von Staats- und Privatwirtschaft vereint. Inkompetente und korrupte Funktionäre, deren wichtigste Qualifikation die Mitgliedschaft in der Regierungspartei NDP ist, führen die Betriebe profitorientiert und sparen sogar mit illegalen Methoden auf Kosten der Beschäftigten.

Die Streiks sind ein Aufbegehren gegen die miserablen Lebensbedingungen und die autokratische Herrschaft Mubaraks. Ungewöhnlich für die noch immer stark von der Altershierarchie geprägte ägyptische Gesellschaft ist, dass bei vielen Streiks 20- bis 30jährige Arbeiter eine führende Rolle spielten. Es ist noch unklar, ob es den Streikenden gelingen wird, gewerkschaftliche Rechte durchzusetzen. »Die Kontrolle über die Gewerkschaften wurde immer als Frage der nationalen Sicherheit behandelt«, sagt der Arbeitsrechtsexperte Ragui Assaad. Die Regierung befürchtet, dass unabhängige Gewerkschaften, wie es derzeit in Guinea der Fall ist, zur treibenden Kraft einer Demokratisierungsbewegung werden könnten.

In normalen Zeiten beschränkt sich die Regimekritik der meisten Ägypter darauf, Witze über den Präsidenten zu erzählen. Populär ist Mubarak nicht, in vielen Großstadtvierteln lag die Wahlbeteiligung im Jahr 2005 kaum über zehn Prozent. Und in der jüngeren Vergangenheit schlug der Widerwille gegen das Regime immer wieder in offene Rebellion um.

Der letzte große Aufstand fand fast genau 30 Jahre vor dem Beginn der gegenwärtigen Streiks statt. Am 17. Januar 1977 verkündete Präsident Anwar al-Sadat eine Erhöhung des Brotpreises, noch am gleichen Tag streikten und demonstrierten Millionen Menschen. Sadat setzte die Armee ein, nahm aber die Preiserhöhung zurück. Es ist zwar fraglich, ob künftige Aufstände dem gleichen Muster folgen werden. Doch das Regime ist sichtlich bemüht, sozialer Unruhe vorzubeugen.

»Wir müssen die Liberalisierung der Wirtschaft mit Mut und Kühnheit in Angriff nehmen«, forderte Mubarak im September vergangenen Jahres. In der gleichen Rede verkündete er, dass der Brotpreis mit einer zusätzlichen Milliarde Pfund subventioniert wird. Auch die zurückhaltende Reaktion auf die Streiks spricht dafür, dass Mubarak eine Eskalation fürchtet. Die staatlichen Gegenmaßnahmen beschränken sich bislang weitgehend darauf, die Streiks als Werk von Agitatoren der Muslimbruderschaft darzustellen.

Hossam al-Hamalawy, der für die Web­seite der Muslimbruderschaft vom Streik in Kafr al-Dawwar berichtete, weist zu Recht darauf hin, dass die Islamisten »in den Kreisen der Arbeiterklasse kaum präsent sind«. Der Klassenkampf hat im korporatistischen Weltbild der Islamisten keine Existenzberechtigung. Doch die Muslimbruderschaft, die 1977 Sadat ihre Solidarität im Kampf gegen die »kommunistische Verschwörung« versprach, ist derzeit an Bündnissen mit säkularen Gruppen interessiert und berichtet eher wohlwollend über die Streiks.

Distanz zu sozialen Kämpfen hielt bislang auch die von Liberalen aus den Mittelschichten dominierte Demokratiebewegung. Allerdings organisierte Kifaya (Genug), ihr wichtigster Verband, eine Gedenkdemonstration anlässlich des 30. Jahrestags des Aufstands. Im Kampf gegen die Liberalen ist das Regime weniger zurückhaltend. In der vergangenen Woche verurteilte ein Gericht in Alexandria den Blogger Abdel Karim zu vier Jahren Gefängnis. Er habe »den Islam angegriffen«, indem er der Universität al-Azhar, einer Lehrstätte des Staats­islam, unterstellte, den Terrorismus zu fördern, und »die Regierung angegriffen«, indem er Mubarak als »Symbol der Diktatur« bezeichnete, befand der Richter.

Das auch für ägyptische Verhältnisse harte Urteil zeugt von Nervosität. Zu den Aktionen der Demokratiebewegung kommen selten mehr als einige hundert Menschen zusammen. Ein Ärgernis, das Mubarak eigentlich ignorieren könnte. Doch offenbar fürchtet die Regierung, dass die politische Apathie der Bevölkerungsmehrheit nicht ewig anhalten wird.