Synapsen vs. Schaltkreise

In Bonn verlor der amtierende Schach-Weltmeister gegen einen Computer. Unterlegen fühlt er sich trotzdem nicht. von alex feuerherdt, bonn

Ein paar Gemeinsamkeiten haben Fußball und Schach ja schon: In beiden Sportarten brauchen die Spieler viel Geduld und eine geeignete Taktik, um zum Erfolg zu kommen; sie können mauern oder attackieren, Züge variieren und mit eleganten Kombinationen überraschen; manch­mal fällt die Entscheidung infolge eines gnadenlos ausgenutzten individuellen Fehlers und oft erst in letzter Minute.

Einen nicht unwesentlichen Unterschied gibt es dann aber doch. Noch kein Fußballweltmeister hat in seiner Sportart jemals gegen einen Computer verloren. Im Schach ist das jedoch gleich zwei Mal passiert: 1997 unterlag Garri Kasparow in New York dem IBM-Rechner »Deep Blue«, und nun traf es Wladimir Kramnik, der sich »Deep Fritz« im Forum der Bonner Bundeskunsthalle bei der »World Chess Challenge« mit 2:4 geschlagen geben musste, nachdem er einem Vorgängermodell vier Jahre zuvor in Bahrain noch mit Mühe ein 4:4 abgetrotzt hatte.

Während Kasparows Gegner damals noch unter eineinhalb Tonnen Gewicht ächzte und sich ständig von Ventilatoren frische Luft zufächern lassen musste, kam Kramniks Kontrahent als flache DVD-Rom daher, angetrieben von zwei Intel-Core-2-Duo-Prozessoren in einem mit vier Gigabyte Hauptspeicher ausgerüsteten Computer. Zwar war der Vorgänger »Deep Blue« um das 25fache schneller als »Deep Fritz« und konnte 200 Millionen Stellungen in der Sekunde errechnen. Eine intelligentere Software verpasste letztgenanntem jedoch ein besseres Gedächtnis und machte ihn so zu einem noch stärkeren Gegner – zu stark für den amtierenden Weltmeister.

Dennoch war Kramnik nicht chancenlos. Es hätte für ihn erneut zu einem Unentschieden reichen kön­nen, wäre ihm nicht nach einem Remis zum Auftakt in der zweiten Partie ein Fehler unterlaufen, den man im Fußball als vermeidbares Eigentor qualifizieren würde. Er übersah, trotz 15minütigem inten­sivem Nachdenken, ein einzügiges Matt – und das, obwohl sich nur noch wenige Figuren auf dem Brett befanden. »Ich bin selbst schockiert, was da passiert ist. Ich kann es nicht erklären. Ich hatte eine ausgezeichnete Stellung, habe mich gut gefühlt und war auch nicht müde«, sagte Kramnik anschließend.

Nun stand er unter dem Druck, die Gesamtpartie noch herumreißen zu müssen, und als es nach weiteren drei Unentschieden vor dem letzten Spiel 2:3 gegen ihn stand, ging er schließlich volles Ri­siko. »Deep Fritz« nutzte das aus und sorgte nach viereinhalb Stunden und 47 Zügen für den 4:2-Endstand.

»Ich bin etwas enttäuscht, aber ich fühle mich der Maschine nicht unterlegen«, erklärte Kramnik nach dem Wettkampf. Sein Trost sind immerhin 500 000 Dollar Honorar, für den Gesamtsieg hätte er das Doppel­te bekommen. Eins kann der Schachcompu­ter jedoch nicht: Preise entgegennehmen. Also erledigten das seine Entwickler für ihn und äußerten sich gleichzeitig anerkennend über den Unterlegenen. »Der Weltmeis­ter hat uns Paroli geboten«, sagte Hauptprogrammierer Matthias Wüllenweber aus Hamburg.

Kramniks Niederlage hatte ihre Ursache schließlich nicht in erster Linie darin, dass der Rechner einfach schneller oder gar schlau­er ist als der Mensch. Geschwindigkeit spielt nicht die entscheidende Rolle, weil die Zugmöglichkeiten zum einen rasch ins Unendliche gehen und auch für eine Maschine nicht mehr fassbar sind. Zum anderen muss der Computer aus den unzähligen Spielvarianten die wenigen sinnvollen von den Abermilliar­den unsinnigen trennen können. Dabei sind die Kriterien für Stellungsbeurteilungen – etwa Zeit und Raum, die Sicherheit des Königs oder das Material – durch Algorithmen nicht hundertprozentig zu erfassen; dem Rechner mangelt es also in gewisser Weise an dem strategischen Weitblick, den ein menschlicher Spieler dank seines Wissens, seiner Erfahrung und nicht zuletzt seiner Intuition entwickelt. »Den Maschinen fehlt die Flexibilität im ›Denken‹, sie bleiben ausrechenbar«, formulierte Kramnik dieses Problem.

Abhilfe schaffen etwa 50 000 so genannter Schachwörter, zu denen »Diagonalen« ebenso gehören wie »offene Linien« oder komplizierte Muster wie die »sichere Königsstellung«. Aus diesen wiederum resultieren Formationen, Taktiken und Strate­gien, die naturgemäß extrem vielfältig sind und sich dadurch zwangsläufig nicht auf ein einfaches »Ein« oder »Aus« reduzieren lassen – das ist einem Gerät, das nur Einsen und Nullen kennt, nicht leicht zu vermitteln. Die Chance des Menschen liegt daher nicht in kurzzügigen Kombinationen, sondern in einer Einschränkung des Bewegungsspielraums für den Schachcomputer, den starre Stellungen an seine Grenzen stoßen lassen.

Eine solche Taktik wählte Kramnik in der dritten und vierten Partie, als er für »Deep Fritz« uneinnehmbare Festungen errichtete und jeweils zu einem Remis kam. Im fünften Spiel jedoch ging der immer stärker unter Siegzwang stehende Welt­meister offensiver zu Werke und lieferte dem Rech­ner schließlich einen Schlagabtausch mit Mattdrohungen für beide Könige, bevor sich Fritz mit knapper Not ins Unentschieden rettete – ein mehr als beachtlicher Erfolg für Kramnik, denn bei derart forcierten Partien gilt das Elektronenhirn normalerweise als klarer Favorit.

Der Bonner Kampf der Synapsen gegen die Schaltkreise geriet derweil zum medialen Groß­ereigns. Insgesamt 208 Journalisten aus dem In- und Ausland waren akkreditiert; Korrespondenten internationaler Nachrichtenagenturen, Zeitungen und Fernsehstationen berichteten von der »World Chess Challenge«. Das Forum der Bundeskunsthalle war an drei Spieltagen ausverkauft, und auf der Homepage der Veranstalter verfolgten zwei Millionen Schachfans aus aller Welt die Partien. Zudem sorgten große Internet-Plattformen für Live-Übertragungen, wes­halb die Organisatoren sogar von insgesamt zehn Millionen Schachinteressierten ausgehen, die die Spiele beobachteten.

Zufrieden waren auch die Entwickler von »Deep Fritz« bei der 1988 gegründeten Hamburger Softwarefirma Chess Base. Der Wettkampf war eine ideale Werbung für sie, zumal so kurz vor Weihnachten. »Fritz 10«, eine vereinfachte Version des Siegerprogramms, bekommt man im Handel für knapp 50 Euro. 119 Euro kostet die stärkste Fritz-Variante, die von Menschen allerdings nicht zu schlagen ist.

Doch André Schulz von Chess Base meint: »Natürlich kann der Schachspieler zwischen verschiedenen Handicap-Stufen wählen. Das muss er auch. Denn wenn er den Rechner ungebremst lässt, läuft er praktisch gegen eine Betonwand.« Und für Rainer Woisin, wie Chefprogrammierer Matthias Wül­lenweber Geschäftsführer von Chess Base, steht fest: »Für viele ist die Maschine als Gegner eigent­lich nicht so interessant«, einfacher sei es, sie »als Partner und Lehrer« zu verstehen. Ziel der Entwickler sei es daher, Fritz noch »menschlicher« zu machen.

Das Gelingen dieses Unterfangens dürfte entscheidend für den Erfolg kommender Challenges sein: Denn wenn der Kampf nicht mehr als offen gilt, wird er schnell langweilig.