Union Jack im Abwind

Patriotismus, Britishness, Regionalismus? Wie britische Nationalisten immer mehr Rivalen bekommen. Zweiter Teil der Serie »Nationalismus in Europa«. von fabian frenzel, sheffield

In seiner letzten großen Rede als Vorsitzender der Labour Party versuchte Tony Blair, die Debatte über seine Nachfolge zu entschärfen. Als im vergangenen Monat Labour-Abgeordnete und Regierungsmitglieder den Premierminister dazu aufforderten, einen Termin für seinen Rücktritt als Regierungschef zu nennen, sah sich Blair dazu gezwungen zu sagen, er werde innerhalb eines Jahres zurücktreten, ließ jedoch den genauen Termin offen. Wer gehofft hatte, Blair würde bei auf dem Parteitag in Manchester seinen Finanzminister Gordon Brown endlich zu seinem Nachfolger ausrufen, wurde jedoch enttäuscht. Für ihn hatte Blair lediglich warme Worte. »Er ist ein bemerkenswerter Diener seines Landes«, sagte er. Ihm sei klar, dass die Erneuerung der Partei ohne Brown nicht gelungen wäre.

Blairs langjähriger Partner bei der Umgestaltung der Labour Party zu »New Labour« gilt politisch als Traditionalist, insofern er stärker als Blair an den Gewerkschaften orientiert ist und als Finanzminister den öffentlichen Sektor förderte. Brown hat sich in den letzten Jahren auch wiederholt als »linker Patriot« zu profilieren versucht. In einer viel beachteten Rede forderte er im Januar eine Wiederbelebung des britischen Patriotismus und schlug die Einführung eines neuen Nationalfeiertags vor, um die britische »nationale Identität« zu feiern. Britishness sei weder ethnisch noch institutionell bestimmt, sondern durch die Werte Freiheit, Verantwortung und Fairness definiert, erklärte Brown. Obwohl die britische Tradition auf diesen »progressiven Idealen« basiere, habe die »alte Linke« die Definition nationaler Werte der Rechten überlassen und das Beharren auf den Traditionen als reaktionär kritisiert. Sein Plädoyer für ein britisches Nationalgefühl jenseits der Partikularismen versteht er auch als Aufforderung zur stärkeren Integration britischer Muslime angesichts des so genannten home grown terrorism: Ein stärkerer Patriotismus solle zur besseren Integration britischer Muslime beitragen und dabei helfen, die Ursachen des Terrorismus zu bekämpfen, sagte Brown.

Seine Vorschläge lösten viel Kritik aus. Die konservative Zeitung Times hielt Brown vor, er wolle die britische Identität auf Gemeinplätze gründen, die keine Identifikation erlaubten, weil sie von jedem vernünftigen Menschen auf der Welt geteilt würden. Linke Kritiker erinnerten daran, dass Britishness von der kolonisierten Bevölkerung im Empire eher selten als Ausdruck von Freiheit und Fairness erfahren worden ist. Auch innerhalb Großbritanniens ist die britische Identität immer schon in Frage gestellt worden. Für irische, schottische und walisische Nationalisten bedeutet sie schlicht englische Fremdbestimmung und Dominanz.

Die Diskussion um den britischen Nationalismus berührt zwei zentrale Reformprojekte von New Labour. Einerseits geht es dabei um die weitgehend gescheiterte Eu­ropapolitik von Tony Blair. Nach den antieuropäischen konservativen Regierungen hat New Labour ab 1997 auf eine stärkere Integration Großbritanniens gesetzt und sogar über die Einführung des Euro nachgedacht. Dessen Ablehnung in der britischen Öffentlichkeit wuchs allerdings auch nach der Einführung der neuen Währung in vielen EU-Staaten im Jahr 2002 weiter an. Der Erfolg strikt antieuropäischer Parteien wie der UK Independence Party bei den Europa-Wahlen in den Jahren 1999 und 2004 zwang Blair, Referenden über die Einführung des Euro wie auch den EU-Verfassungsentwurf zu versprechen. Mit dem vorläufigen Ende der EU-Verfassung im Sommer vorigen Jahres sind die Volksabstimmungen wie auch die Diskussion um weitere Integrationsschritte vom Tisch. Browns positive Bezugnahme auf den britischen Patriotismus deutet darauf hin, dass er diesen neuen integrationsskeptischen Kurs fortsetzen will.

Das zweite große Reformprojekt von New Labour war vordergründig weitaus erfolgreicher als die Europapolitik. New Labour hat seit 1997 durch konstitutionelle Reformen unabhängige Parlamente in Schottland, Wales und Nord­irland geschaffen, die unter anderem die Konflikte zwischen lokalen Nationalismen und der britischen Zentralmacht entschärfen sollten. In Nordirland gelang New Labour damit die Einleitung eines Friedensprozesses. In Wales und Schott­land entscheiden die Parlamente heute über verschiedene Aspekte des täglichen Lebens, vergleichbar den Landtagen deutscher Bundesländer, wobei eine Tendenz zu größerer Autonomie vor allem in Schottland immer deutlicher wird. Die Föderalisierung hat also eine gewisse nationalistische Eigendynamik ausgelöst, die sich nun auch in England bemerkbar macht.

Dabei geht es zunächst nur um ein konstitutionelles Ungleichgewicht, das mit den Reformen der Labour Party entstanden ist. Seitdem die Schotten und die Waliser autonom über gewisse Angelegenheiten bestimmen können, sind die Engländer im Nachteil, weil vergleichbare englische Politikfelder weiter im britischen Parlament in Westminster verhandelt werden. Die Konservativen, die Schottland und Wales seit langem politisch marginalisiert sind, pochen zunehmend auf »konstitutionelle Gerechtigkeit« für England und machen den englischen Nationalismus politisch salonfähig.

Großes Identifikationspotenzial bietet bisher eigentlich nur der Sport. Im Fußball oder Kricket gibt es nämlich außer schottischen und walisischen auch englische Mannschaften. Bis in die achtziger Jahre war jedoch auch hier der Union Jack, die Fahne Großbritanniens, der politisch korrekte und populäre Ausdruck der Unterstützung englischer Teams. Übermäßiges Schwenken der englischen Fahne, dem St. Georgs-Kreuz, hatte dagegen eher Ablehnung und Sorge bei moderaten Briten ausgelöst. Englischer Nationalismus gehörte in die Schmuddelecke von Fußballhooligans, der British National Party (BNP) oder anderer Rechtsradikaler, deren Vorstellungen von Britishness sich in weißer Hautfarbe und englischer Dominanz erschöpfen. Die BNP ist trotz ihres Namens ein rein englisches Phänomen, und ihre jüngsten Erfolge bei Kommunalwahlen (Jungle World, 19/06) sind ein Indiz für einen wachsenden englischen Nationalismus.

Gleichzeitig ist in den vergangenen Jahren die Popularität der englischen Fahne als Repräsentantin der »Sportnation« England größer geworden. Vergleichbar mit dem »Fahnenphänomen« während der WM in Deutschland hat dies viel mit der Karnevalisierung von Sportereignissen zu tun. Dass der Union Jack dabei beinahe ausnahmslos durch das St.Georgs-Kreuz ersetzt wurde, erscheint vielen Briten jedoch als Zeichen einer stärkeren englischen Selbstidentifikation.

Dies könnte ein Problem für Gordon Brown werden. Es gilt zwar als unwahrscheinlich, dass die Konservativen sich in naher Zukunft in eine nationalistische englische Partei verwandeln. Zu sehr stehen die Tories in der Tradition einer Britishness, die über den partikularen englischen Nationalismus hinausweist. Dennoch werden sie es sich nicht entgehen lassen, immer wieder darauf hinzuweisen, dass Brown einen ganz persönlichen Grund hat, die britische »Identität« hochzuhalten. Sie ist nämlich der Garant dafür, dass er als Schotte Premierminister von Großbritannien werden kann.