Die Gefangenen gehen, Moussa Koussa kommt

Libyens Staatschef Gaddafi will durch die Amnestierung islamistischer Häftlinge die Opposition befrieden. Auch in Algerien und Tunesien wurden Islamisten freigelassen. von bernhard schmid

Handelt es sich um ein zufälliges zeitliches Zusammentreffen? Um den Ausdruck einer länderübergreifenden politischen Tendenz? Oder wirkte der Druck einer westlichen Großmacht? Ende Februar und Anfang März ließen drei nordafrikanische Länder – Tunesien, Algerien und Libyen – nahezu gleichzeitig eine größere Anzahl von politischen Häftlingen frei.

Da der politische Islam als gesellschaftlich am besten verankerte Opposition in der Region gelten muss, kann es kaum verwundern, dass es sich überwiegend um Islamisten handelte. Allerdings gehörten sie recht unterschiedlichen Organisationen an. Die in Tunesien Freigelassenen waren fast ausnahmslos gewaltlose Gesinnungshäftlinge. Dagegen wurden in Algerien, wo insgesamt 2 600 Haftentlassungen stattfinden sollen, Gefangene amnestiert, die zum Teil an ideologisch motivierter Schwerkriminalität teilhatten. Manche saßen aber auch wegen des Vorwurfs der »Apologie des Terrorismus« in Worten oder aber seiner Finanzierung in Haft. Und da es in keinem der drei Länder eine unabhängige Justiz gibt, ist keineswegs sicher, dass die Vorwürfe in allen Fällen stichhaltig sind.

Die Frage, ob die Freilassungen in irgend­einer Form miteinander koordiniert oder abgestimmt worden sind, wurde auch von der Pariser Tageszeitung Libération gestellt, jedoch eher verneint. Für eine solche Annahme spricht, dass insbesondere vor einem bis anderthalb Jahren die USA erheblichen Druck auf das ägyptische und das syrische Regime ausübten, damit diese die Repres­sionen gegen die Muslimbruderschaft verringern und ihr angehörende Häftlinge freilassen.

Das Interesse der US-Regierung bestand einerseits darin, sich die Fraktionierung der islamistischen Bewegung zunutze zu machen. Die ägyptische Muslimbruderschaft und ihr nahe stehende Organisationen in anderen arabischen Ländern verfolgen eher eine Strategie der kleinen Schritte und suchen, anders als die Mehrheit der algerischen Islamisten nach 1989, nicht die frontale Konfronta­tion mit den herrschenden Regimes. Diese Frak­tion soll gegenüber den jihadistischen Strömungen gestärkt werden. Auch die große Mehrzahl der jetzt entlassenen libyschen Häftlinge, 84 von rund 130 Freigekommenen, gehört einer aus der Muslimbruderschaft hervorgegangenen Organisation an.

Andererseits hält man es in Teilen des politischen Establishments der USA wohl auch für klug, den Islamisten ihren Nimbus als ewige Herausforderer der Mächtigen zu nehmen. Denn die Tatsache, dass sie, abgesehen vom unerwarteten Wahlsieg der palästinensischen Hamas, noch nie in arabisch-sunnitischen Kernländern an die Macht kommen konnten, verleiht den Islamisten eine »politische Unschuld«. Sie können jede Verantwortung für die repressiven Praktiken der Regimes und deren zumeist dürftige entwicklungspolitische Erfolge von sich weisen. Manche US-Strategen glauben, durch stärkere politische Integration eine »Entzauberung« dieser Strömung herbeizuführen zu können.

Dennoch spricht vieles gegen die Annahme einer supranationalen Koordinierung der Freilassungen. Im Falle Alge­riens erfolgten die Haftentlassungen auf der Grundlage des neuen Amnestiegesetzes, das am 29. September vorigen Jahres per Referendum, wenn auch mit möglicherweise manipulierten Ergebnissen, angenommen worden war. Die Ausführungsbestimmungen dazu sind erst kürzlich verabschiedet worden. Das hängt wohl vor allem mit der längeren Krankheit von Staatspräsident Abdelaziz Bou­teflika zusammen, der im November und Dezember monatelang in einem Pariser Krankenhaus lag.

In Tunesien, wo sich unter 1 300 Begnadigten um die 80 politische Häftlinge befinden sollen, scheint das Regime vor allem daran interessiert zu sein, westlichen Druck und Kritik an der Menschenrechtssituation abzuschwächen. Die Mehr­heit der Betroffenen hatte ohnehin den Großteil ihrer Haftstrafe abgebüßt, 340 Islamisten sollen aber noch bis 2007 einsitzen.

Am brisantesten ist zweifelsohne das libysche Beispiel, denn hier folgten die Freilassungen einer innenpolitischen Krise. Am 17. Februar waren mindestens elf, nach Angaben von Exiloppositionellen sogar etwa 40 Libyer von der Polizei erschossen worden, kurz nachdem Demonstranten Feuer an das italienische Konsulat in Benghazi gelegt hatten. Anfänglich erschienen die Hintergründe rätselhaft, da die Behörden des libyschen Regimes unter Oberst Muammar al-Gaddafi die Demonstration selbst organisiert hatten.

Berichten und Analysen zufolge, die in der italienischen Presse sowie der Zeitschrift Jeune Afrique, einem inoffiziellen Sprach­rohr der französischen Afrika-Politik, publiziert worden sind, hatten tatsächlich die libyschen Behörden den Protestmarsch organisiert. Er stand im Kontext der Auseinandersetzungen um die dänischen Mohammed-Karikaturen, führte jedoch vor das italienische Konsulat. Denn die Empörung richtete sich unter anderem wegen des inzwischen gefeuerten Ministers Roberto Calderoli gegen die ehemalige Kolonialmacht. Der Politiker der rechtspopulistischen Lega Nord trug in der Öffentlichkeit ein T-Shirt, das die Karikatur des islamischen Propheten mit einer Bombe im Turban zeigt. In seinem Fall, der sicherlich eine essenzialistische Gleichsetzung von Islam und Terrorismus vornehmen wollte, kann von Rassismus ausgegangen werden.

Doch die Kontrolle über die Demons­tration entglitt den libyschen Behörden rasch. So äußerte sich bei dem Protestmarsch für die angestaute soziale Frustration. Anstatt Dänen und Italiener zu beschimpfen, riefen einige der Demonstranten Parolen gegen das Gaddafi-Regime. Die örtliche Funktionärin Houda Ben Amer, die an der Spitze gelaufen war, verließ den Umzug fluchtartig. Anscheinend spielte eine wichtige Rolle bei der Radikalisierung des Unmuts, dass es sich just um den Jahrestag der Hinrichtung von neun Jugendlichen aus Ben­ghazi handelte, die 1987 ein hochrangiges Mitglied der »Revolutionskomitees« des Re­gimes ermordet haben sollen. Zum Fortgang der Ereignisse fügt Jeune Afrique hinzu, in den Tagen nach der Demonstration hätten »zornige Jugendliche« noch über 30 öffentliche Gebäude angezündet.

Auch ein italienischer Staatsbürger, der Augenzeuge der Vorfälle vor dem Konsulat gewor­den war, erklärte in der Tageszeitung La Repub­blica, der Zorn der jüngeren Demonstranten sei nicht gegen sein Land gerichtet gewesen, »sondern gegen ihre schwierigen Lebensbedingungen« und gegen das Regime Gaddafis. Ähnlich, allerdings zurückhaltender äußerte sich am selben Tag in La Stampa der italienische Botschaf­ter in Tripolis, Francesco Trupiano.

Nach den Auseinandersetzungen setzte in Benghazi, wohin unter anderem Moussa Koussa, Gaddafis Geheimdienstchef, persönlich entsandt wurde, eine harte Repressionsphase ein. Hunderte von Verhaftungen erfolgten, sämtliche Internetcafés wurden geschlossen, und die Handykommunikation wurde beschränkt. Unklar ist, ob islamistische Kräfte bei den Protesten eine Rolle spielten und wie einflussreich sie im Land sind. Auf jeden Fall scheint das libysche Regime entschlossen, ihnen entgegenzu kommen, unter anderem durch die Freilassung aller noch in Haft sitzenden Muslimbrüder.