Das große Durcheinander

Je stärker das Parteiensystem erodiert, desto paradoxer handeln Politiker und Wähler. von felix klopotek

So viel Widersprüche gab es selten in der Bundespolitik: Die großen Parteien behaupteten vor der Bundestagswahl, gestützt auf zahllose Meinungsumfragen, gegenüber der jeweils anderen Partei einen unschlagbaren Vorteil zu haben. Die SPD konnte mit Gerhard Schröder den bei weitem beliebteren Kandidaten vorweisen; die CDU dagegen konnte beanspruchen, die Hoffnungen der Wähler auf einen Politikwechsel zu verkörpern.

Die SPD setzte in den vergangenen sieben Jahren ein beispielloses Verarmungsprogramm für die Unterschicht durch und reklamierte im Wahlkampf dennoch die Kompetenz in Sachen sozialer Gerechtigkeit für sich. Die CDU warf ihr die hohe Zahl der Arbeitslosen vor und kündigte noch härtere Kürzungen an. Genutzt hat es nichts, beide Parteien, beide Kandidaten erzielten außergewöhnlich schlechte Wahlergebnisse. Die Volksparteien vereinigen nicht einmal mehr 70 Prozent der abgegebenen Stimmen auf sich und repräsentieren insgesamt nur noch 54 Prozent aller Wahlberechtigten.

Die Wähler, glaubt man den Demoskopen, reagieren paradox auf dieses Ergebnis, passend zu den Widersprüchen in den Aussagen der großen Parteien: Man ist mit dem Ausgang der Wahl unzufrieden; man würde aber, hätte man noch einmal die Wahl, genauso abstimmen wie am vorletzten Sonntag. Die Politiker beharren auf der Richtigkeit ihrer Politik, die Wähler beharren auf der Richtigkeit ihrer Wahlentscheidung, und trotzdem sind alle enttäuscht. Sowohl die Wähler als auch die Parteien pflegen einen merkwürdigen Umgang mit der Realität. Was ist das für ein Widerspruch, der auf der emotionalen Oberfläche des Politischen als Patt, als Lähmung erscheint und sich dann als Trotz äußert?

Die nächste Legislaturperiode müsste nach der Logik der Politik der vergangenen Jahre eine weitgehende Kündigung des spezifisch deutschen Klassenkompromisses mit sich bringen, also der Sozialpartnerschaft, die in der einen Lesart mit »rheinischer Kapitalismus« übersetzt wird, in der anderen mit »Postnazismus«. Das könnte dazu führen, dass beide Seiten, das Kapital wie die Lohnabhängigen, die offene Konfrontation suchen. Davon ist man in Deutschland derzeit weit entfernt, eben weil dieser Klassenkompromiss noch immer fortwirkt. Er stabilisiert und lähmt beide Seiten. Das Ergebnis des sozialen Widerspruchs ist die ungeliebte große Koalition. Die Situation ist verfahren.

Die Hartz-Gesetze, die Agenda 2010, die Steuerreformen zugunsten der Reichen und die umfangreichen Entlastungen für Unternehmen, der »Umbau«, sprich die schleichende Privatisierung der sozialen Sicherungssysteme, die Delegitimierung der Gewerkschaften: Das ist die sozialpolitische Bilanz der rot-grünen Regierungszeit. Noch gibt es Mitbestimmungsrechte der Lohnabhängigen, noch gibt es Flächentarifverträge und einen stabilen Kündigungsschutz, noch ist die Privatisierung der Sicherungssysteme nicht abgeschlossen und die Steuergesetzgebung nicht reformiert. Doch die Logik der rot-grünen Reformen besteht in ihrer immer umfassenderen Entfaltung. Die Fortführung dieser Reformpolitik würde die Aufgabe großer Teile der Bevölkerung bedeuten: die Zunahme der Arbeitslosigkeit, der Armut der arbeitenden Bevölkerung und der Verelendung der Arbeitslosen.

Was würde passieren, wenn in einem Land, das offene Klassenkämpfe nicht kennt oder nicht kennen will (denn selbstverständlich finden Streiks statt, nur kommen sie im Bewusstsein der Öffentlichkeit kaum vor), in kurzer Zeit eine Situation herbeigeführt würde, die diese Kämpfe im Prinzip zwingend hervorriefe? In anderen Ländern, wie Italien, Frankreich, England, Griechenland, werden Klassenkonfrontationen hart ausgefochten, bis eine Seite verloren hat.

In Deutschland ist das noch anders. Die SPD und die CDU, im Verbund mit ihren Koalitionspartnern, wollen nicht nur nehmen, sie haben auch etwas zu bieten, die SPD vor allem das Modell VW. Es fußt auf der Annahme, das Kapital brauche ein gefestigtes soziales Milieu, das arbeitswillig ist, wenig streikfreudig und stolz auf das, was es leistet. Dieses Milieu wird zudem befriedet von starken Gewerkschaften, die es nach außen abschirmen und nach innen disziplinieren. Es ist gesättigt von einem Nationalismus, der denjenigen, die an der Deutschland AG partizipieren dürfen, eine gewisse Egalität, etwa in Sachen Bildung, verspricht bzw. suggeriert. Gleichzeitig verlangt dieses Modell hohe Opfer-, also Leistungsbereitschaft; die internationale Wettbewerbstauglichkeit soll über die Festigung der Betriebs- und Volksgemeinschaft erreicht werden.

Für die CDU dürfte VW hingegen das Sinnbild einer Allianz aus raffgierigem Großkapital und egoistischer Kernbelegschaft darstellen. Wahrscheinlich wäre der VW-Skandal dieses Sommers stärker für den Wahlkampf ausgeschlachtet worden, würde Niedersachsen derzeit nicht von der CDU regiert; der Ministerpräsident Christian Wulff (CDU) sitzt für das Land im Aufsichtsrat von VW. Die Christdemokraten bauen eher auf eine Synthese aus hochflexibler Elite und gestärkten Familienwerten, »Leitkultur« und »Eigenverantwortung«. Ihr Fetisch ist »der Mittelstand«, und nicht das Großkapital oder die Arbeiterklasse, was nicht heißt, dass sie tatsächlich eine Politik gegen das Großkapital einschlagen würde. Ein weiteres Zurückdrängen der Gewerkschaften, die Aufhebung des Tarifrechts und die Schwächung des Kündigungsschutzes würden aber vor allem kleineren und mittleren Betrieben zugute kommen.

Diese Strategien der großen Parteien scheinen nun aber an ihre Grenzen gestoßen zu sein. Kein Modell war attraktiv genug, um noch einmal eine wirklich überzeugende Mehrheit zu gewinnen und sich so vom anderen abzusetzen. Beide Modelle stabilisieren sich jedoch gleichzeitig auf eigentümliche Weise: Viele, wenn auch längst nicht alle Wähler, bevorzugen einen Kanzler, der durchgreift und unter dem es dennoch kuschelig gemütlich zugeht, und unterstützen eine Politik, die hemmungslos über zu hohe Lohnnebenkosten schwadroniert und dennoch soziale Gerechtigkeit propagiert.

Das ist ein großer Widerspruch, dessen Auswirkung man am Wahlsonntag beobachten konnte. Je mehr das Parteiensystem erodiert, umso mehr werden die sozialen Konflikte in Wahlkampfschlachten, in Kampagnen von jungkonservativen Feuilletons und Nachrichtenmagazinen und in machiavellistisch-autoritäres Gefuchtel der Politikertypen transformiert. Die Verlierer Schröder und Merkel trumpfen mit ihrem Anspruch, der bessere Kanzler zu sein, den sie einander bestreiten, vielleicht das letzte Mal spektakulär auf.

Welche Rolle bleibt in diesem Spiel der Linkspartei? So, wie die Parteien von den Wählern erwarten, dass sie ihr Unbehagen in verfassungsgemäßer Weise artikulieren und brav abstimmen, erwarten diese, dass ihre Stimmen nicht für einen Unfug missbraucht werden, der die Geschäftsordnung stört. Neun Prozent aller Wähler haben die Linke gewählt, die mit dem Anspruch auftrat, vorläufig eine parlamentarische Opposition zu bilden; neun Prozent wünschen, laut einer ZDF-Umfrage am Tag nach der Wahl, eine rot-rot-grüne Linkskoalition. Was für ein bemerkenswerter Zufall! Irgendwann wird die parlamentarische Linke den stillen Erwartungen, sie möge den Mehrheitsbeschaffer spielen, entsprechen.