Wir träumen weiter

Projekt der Illusionen von felix klopotek

Im März 1895, wenige Wochen vor seinem Tod, schrieb Friedrich Engels eine Einleitung zur Neuherausgabe von Marx’ Buch »Die Klassenkämpfe in Frankreich 1848 bis 1850«. Sie gilt als sein politisches Testament, und wer sie liest, kommt schnell in die Versuchung, Engels als den ersten Revisionisten anzusehen. Da empfiehlt doch der Revolutionär tatsächlich den Gebrauch des allgemeinen Stimmrechts und gerät über den rasanten Stimmenzuwachs der deutschen Sozialdemokratie geradezu ins Schwärmen.

Aber Vorsicht, man muss auf die Wortwahl achten: Engels spricht von der »Benutzung des allgemeinen Wahlrechts«, bezeichnet es als »ein Werkzeug der Befreiung«, nennt die Teilnahme an Wahlen »Taktik«. Über den bürgerlichen Staat hat er sich wenig Illusionen gemacht. Engels war immer noch traumatisiert von dem entsetzlichen Blutbad, in dem die Pariser Kommune endete. Es muss doch weniger grausame Übergänge zum Sozialismus geben! An den Stimmengewinnen bei Wahlen maß er zuverlässig die Stärke und wachsenden Hegemonie der Arbeiterbewegung. Wahlen waren ihm Mittel zum Zweck und nur ein Element des sozialen Kampfes.

Es lohnt, an diesen Text der sozialistischen Klassik zu erinnern, wenn demnächst die hundertste Debatte um die »Wahlbeteiligung«, den »parlamentarischen Flügel der außerparlamentarischen Bewegung«, »das kleinere Übel« und »das große Potenzial einer neuen Linkspartei« anbricht. Engels erlebte noch die politische Konstituierung einer sozialen Bewegung und sah darin, nach dem Jahrhundert der gescheiterten (oder nicht ausgebrochenen) Revolutionen eine neue Perspektive. Heute erleben wir eine Umverteilung innerhalb eines politischen Milieus, das, egal ob es mainstream-sozialdemokratisch, links-keynesianistisch oder ost-patriotisch ist, abgewirtschaftet hat. Eine Linksabspaltung der SPD ist heutzutage genau das, was sie ist, und kein Jota mehr: eine Abspaltung. Die sozialdemokratische Identität bleibt gewahrt, nicht auf Aufruhr und Streik hoffend, sondern auf den Wechselwähler vertrauend.

Wahrscheinlich war sein Vorschlag zur parlamentarischen Taktik bereits zu Engels’ Zeiten bei deutschen Sozialdemokraten zur parlamentarischen Illusion verkehrt. Und die wird seitdem immer illusionärer, wuchs sich zur Sozialstaatsillusion aus und ist mittlerweile eine Sozialdemokratieillusion. Gehen doch die Wahlalternative Arbeit und soziale Gerechtigkeit (Wasg) und die PDS davon aus, dass es einen authentischen Kern sozialdemokratischer Politik jenseits rot-grüner Demontagewut gebe.

Die Debatte um eine neue Linkspartei ist eitle Selbstbespiegelung, deren psycho-strategischer Gewinn darin besteht, das Milieu aus der ehemaligen SED-Bürokratie bzw. enttäuschten Gewerkschaftern und Altsozis von der Wirklichkeit abzuschirmen. Diese sieht so aus, dass die Institutionen, an die die diversen Sozialstaatsillusionen sich klammern, in Erosion begriffen sind. Die Wahlbeteiligung sinkt tendenziell, Gewerkschaften und SPD leiden unter einem immensen Verlust an Mitgliedern, es gibt höchstens ansatzweise noch eine linksliberale Presse. Das alles geht einher mit einem politisch-medialen Desinteresse an dem Schicksal der Marginalisierten und Prekarisierten. Das Kapital leistet sich eine radikale Desintegration und reproduziert den Aufstieg des sozialstaatlichen Integrationsmodells vor 120 Jahren als Negativbild.

Diese Dynamik zu reflektieren, sie zu begreifen, wäre für die Linke eine heroische Aufgabe. Die parlamentarische Linke versucht, ihr schrumpfendes Territorium zu bewahren – für sich selbst.