»Der Abschluss ist eine Katastrophe«

Stephan Kimmerle

Verdi und die Arbeitgeber des öffentlichen Dienstes einigten sich in der vorigen Woche auf ein neues Tarifrecht. Es soll ein Niedriglohnsektor geschaffen werden, das Weihnachts- und das Urlaubsgeld werden gekürzt, Zuschläge für Beschäftigte mit Kindern fallen weg. Stattdessen werden Leistungszulagen eingeführt. Man habe das Tarifrecht im öffentlichen Dienst »zukunftsfest gemacht«, lobte der Vorsitzende von Verdi, Frank Bsirske, das Ergebnis.

Das Netzwerk für eine kämpferische und demokratische Verdi kritisiert den Tarifabschluss. Mit Stephan Kimmerle vom Sprecherrat des Netzwerkes sprach Stefan Wirner.

Was sagt das Netzwerk zum Tarifabschluss?

Er ist eine Katastrophe. Die Verdi-Führung hat einer Kapitulation zugestimmt, die sie den Mitgliedern als Erfolg verkaufen will.

Welche Punkte hebt ihr hervor?

Die größten Zumutungen sind die Niedriglöhne, die kommen sollen, die Leistungslöhne, der Reallohnverlust für die Beschäftigten. Es geht um Arbeitszeitflexibilisierung, die einhergeht mit der Abschaffung bisheriger Zuschläge für Überstunden. Besonders hart trifft die Beschäftigten die Abschaffung von Familienzuschlägen, aber auch die Arbeitszeitverlängerung mit Öffnungsklauseln bis hin zur 40-Stunden-Woche. Und zu all dem wurden die Mitglieder nie befragt. Es wurde nicht dargestellt, was für ein Ausverkauf da verhandelt wurde.

Die Tarifkommission kann solche Entscheidungen treffen, ohne die Mitglieder zu fragen?

In Nordrhein-Westfalen etwa gab es 31 regionale Veranstaltungen, auf 30 von ihnen wurde beschlossen, dass Verdi die Entgelttarife kündigen und Lohnforderungen stellen und eben nicht dieses Theater mit einem Verzicht auf eine Lohnrunde inszenieren solle. All das, die Beschlüsse auf Landesebene in Baden-Württemberg, die Beschlüsse in Bayern und Nordrhein-Westfalen wurden ignoriert.

Die Bundestarifkommission hat völlig eigenmächtig gehandelt. Eine Konsequenz aus dieser Tarifrunde muss sein, dass die Mitglieder der Bundestarifkommission jederzeit abwählbar sein müssen. Dass transparent verhandelt werden muss, dass dargestellt werden muss, was verhandelt wird.

Es gibt derzeit keine Möglichkeit der Basis, in die Tarifkommission einzugreifen. Aber es wurde in diesem Fall auch gar keine Information vermittelt. Es wurden schöne Worte über Modernität verloren, aber die entscheidenden Fragen wurden nie benannt.

Bisher blieb ein Protest der Beschäftigten im öffentlichen Dienst aus.

Dort, wo es Veranstaltungen gab, kam ein gewisser Unmut zum Ausdruck. Das lief immer nach einem gewissen Muster ab. Erst wurden die Kolleginnen und Kollegen eineinhalb Stunden vollgelabert, wie in Berlin etwa, sodass ein Teil der Leute bereits wieder nach Hause ging. Die Kritik, die dann dennoch geäußert wurde, wurde einfach ausgesessen.

Darauf reagieren viele Kolleginnen und Kollegen mit Resignation und ziehen sich zurück. Es gab nie eine Abstimmung über die Einführung von Niedriglöhnen, über die dreijährige Laufzeit des Vertrags, das ist ein Skandal. Es war die Rede von einer zwölfmonatigen Laufzeit. Es gab nie eine Abstimmung darüber, dass der Kinderzuschlag wegfallen soll. Die Verdi-Führung und die Bundestarifkommission müssten mal darlegen, woher sie ihr Mandat für solche Entscheidungen nehmen.

Aber man kennt das Verfahren doch seit längerem. Die Führung von Verdi sagt das eine und tut dann das andere.

Aber die Mitgliederzahl geht dabei rapide nach unten. Das wird nun noch einmal zunehmen. Ich kämpfe darum, dass kritische Kollegen nicht das Handtuch werfen, sondern aktiv werden und für eine andere Politik eintreten. Ich befürchte, dass die Gewerkschaft noch einmal geschwächt wird. Viele Kollegen sagen sich doch: Verzichten kann ich auch alleine. Und treten aus.

Mit diesen ganzen Öffnungsklauseln sind die nächsten Auseinandersetzungen bereits programmiert. In Berlin wird mit der BVG ein Spartentarif verhandelt, ein Absenkungstarif. In der Tarifrunde wurde vereinbart, dass es in Krankenhäusern Notlagentarifverträge geben soll. Ein Betrieb nach dem anderen wird rausgebrochen, wie in der Metallindustrie.

Wenn man die offizielle Erklärung von Verdi liest, hört sich das alles ganz anders an. »Keiner verliert etwas, viele Beschäftigte werden auch materielle Gewinne haben«, heißt es etwa. Betriebsbedingte Kündigungen seien nahezu ausgeschlossen.

Die betriebsbedingten Kündigungen waren ja bisher schon ausgeschlossen. In den vergangenen Jahren war das immer wieder ein Argument für Zurückhaltung bei den Löhnen. Verdi hat zugestimmt, überhaupt erst darüber zu verhandeln. Nun wird das als Errungenschaft verkauft, was es vorher bereits gab.

Lobend wird erwähnt, dass fortan nach Leistung bezahlt werden soll und nicht mehr nach dem »Prinzip von Dienstherren und Untergebenen«. Das schaffe »Transparenz«.

Genau dieses Prinzip wird mit Leistungslöhnen ausgebaut. Das sind willkürliche Prämien, Leistungslöhne sind gerade aus Sicht der Gewerkschaften völlig katastrophal. Diese Willkür in der Bezahlung schafft Misstrauen unter den Kollegen und erschwert die Solidarität.

Von Verdi wurde immer behauptet, diese Leistungslöhne würden zusätzlich zu den bisherigen bezahlt. Doch sie werden aus den gestrichenen Kinderzuschlägen und dem Weihnachts- und Urlaubsgeld finanziert.

Die Arbeitszeitkonten sollen den Beschäftigten die Möglichkeit geben, »souveräner über ihre Arbeitszeit zu bestimmen«.

Wer jemals im öffentlichen Dienst gearbeitet hat, in einer Kindertagesstätte oder im Krankenhaus, der wird nicht auf die Idee kommen, dass die Beschäftigten souverän entscheiden können. Für die bisherige Flexibilität musste der Arbeitgeber bezahlen. Da wurden Überstundenzuschläge etc. fällig. Jetzt ist es so, dass 45 Stunden in der Woche, zwölf Stunden am Tag zwischen 6 und 20 Uhr ohne Zuschläge gearbeitet werden kann.

Eine Angleichung zwischen Ost und West habe auch stattgefunden.

Der einzige Fortschritt liegt darin, dass im Osten die Löhne von 92,5 auf 97 Prozent der Westlöhne ansteigen. Aber gleichzeitig werden die Jahressonderzahlungen auf 75 Prozent des Westniveaus eingefroren. Auch Ende 2007 wird im Osten für längere Arbeitszeit weniger bezahlt. Die Angleichung auf 39 Stunden gilt ja nur für die Bundesbeschäftigten.

Aber der größte Haken ist die Meistbegünstigungsklausel. Die bedeutet, wenn in den Ländern, wo die Tarifverhandlungen ausstehen, etwas vereinbart wird, eine längere Arbeitszeit oder schlechtere Bezahlung, dann gilt dies unmittelbar für die Kommunen im Bund. D.h. wenn in Hessen oder Mecklenburg-Vorpommern bei den traditionell schlecht organisierten Landesbeschäftigten verhandelt wird, hängen Bund und Kommunen, alle Beschäftigten mit drin. Wenn etwas gegen die Beschäftigten durchgesetzt wird, kann es vom Bund oder den Kommunen sofort übernommen werden, ohne neue Verhandlungen.

Was plant das Netzwerk? Wie kann es weitergehen?

Erst mal muss man klarmachen, was das eigentlich bedeutet. Die Kolleginnen und Kollegen wissen es ja bislang nicht, sie wurden auch nicht gefragt. Sie werden es aber spüren. Uns geht es darum zu verdeutlichen, dass es so nicht weitergehen kann. Man muss inhaltlich und personell eine Alternative aufbauen zu Bsirske und der ganzen Bande. Es geht darum, aktive Kolleginnen und Kollegen zusammenzubringen und die Gewerkschaft von unten wieder aufzubauen, auch mit oppositionellen Strukturen, um Bsirske und Co. auf allen Ebenen herauszufordern.