»Das WSF muss sich nach rechts öffnen«

Jai Sen ist einer der einflussreichsten indischen Globalisierungskritiker. Er studierte Architektur in Kanada, kehrte zurück nach Indien, wo er sich in Kalkutta für die Rechte von Obdachlosen einsetzte. Heute erforscht er die Geschichte von sozialen Bewegungen in Indien und Brasilien und schreibt für die Zeitschrift Communalism Combat. Der Mitorganisator des letzten Weltsozialforums (WSF) in Bombay äußerte sich nach dem Treffen kritisch über die Entwicklung der Bewegung. Mit ihm sprach Matthias Becker.

Wie einige andere waren Sie vom letzten Weltsozialforum in Bombay enttäuscht. Warum?

Ich will dem Forum Gerechtigkeit widerfahren lassen und die Bewegung in einem weiteren historischen Zusammenhang verstehen. Meine Kritik ging immer davon aus, dass das Weltsozialforum potenziell einen wichtigen Beitrag zur kommenden Weltpolitik leisten kann, aber dieses Potenzial wird aus mehreren Gründen nicht realisiert. Ich sehe das wesentliche Versagen in Bombay darin, dass es ein Forum des Widerstands war und keines für Alternativen. Wenn wir es nicht schaffen, weitergehende Perspektiven zu entwickeln, werden wir weiterhin der Welthandelsorganisation oder den internationalen Gipfeltreffen hinterherlaufen. Die Idee einer offenen Sphäre, in der Menschen unterschiedlicher politischer Überzeugung aufeinander treffen und das Ergebnis der Diskussionen eben nicht von vornherein feststeht, ist nicht verwirklicht worden. Wir brauchen kein WSF als Dachorganisation oder als Bündnis von Organisationen, sondern als Forum in Bewegung. Das Gegenteil findet gerade statt, die alte Denk- und Redeweise kehrt zurück. Das Organisationskomitee, dem ich ursprünglich angehörte, wird nun tatsächlich zu einem Komitee der Organisationen, dem Einzelpersonen nicht mehr angehören dürfen. Kein Wunder, dass viele Aktivisten desillusioniert und frustriert sind!

Kann man schon von institutioneller Erstarrung sprechen?

Genau. Tendenzen in diese Richtung werden gerade deutlich in den Vorbereitungen für das Europäische Sozialforum in London, wo trotzkistische Parteien versuchen, das Treffen zu dominieren. Die Linke ist in einer Krise, das muss sie verstehen. Die organisierte Linke sieht das Forum und die globalisierungskritische Bewegung als Chance, noch einmal als Wiedergängerin ins Leben zurückzukehren. Offenheit bedeutet mehr, als nur eine Website zu haben. Von Seattle über Göteborg bis nach Bombay gibt es einen Trend weg von der horizontalen Entscheidungsfindung.

Was tun?

Wir müssen uns öffnen für alle, die sich der neoliberalen Globalisierung entgegenstellen wollen. Das WSF wird immer mehr zu einer Reihe von Veranstaltungen und Events, anstatt dass wir mit den Menschen reden, und zwar über die Grenzen verschiedener Ideologien, Kasten, Klassen und Gender hinweg. Wir haben eine historische Chance, die wir nicht verspielen dürfen. Stattdessen wird zu den schon Bekehrten gepredigt und ein Kanon festgelegt, der viele ausschließt. Weltweit leiden gerade die kleinen Gewerbetreibenden unter den Globalisierungstendenzen. Außer in Brasilien werden sie nirgendwo repräsentiert.

Eine Koalition mit dem Kleinbürgertum?

Ich würde es nicht »Koalition« nennen. Wir müssen weg von dem Vokabular der klassischen politischen Ökonomie. Aber ja, ich bin für eine Öffnung auch nach rechts und zur politischen Mitte.

Zum ersten Mal gab es in Bombay ein Gegentreffen, auf dem das WSF als zu wenig radikal und zu kompromissbereit kritisiert wurde.

Die Veranstaltung Mumbai Resistance (MR) war noch mehr dem alten Denken verhaftet als das WSF, aber ich sehe da nur graduelle Unterschiede. Im Westen wird der nationale Hintergrund der indischen Politik von vielen nicht richtig verstanden. Wir erleben hier einerseits einen massiven Angriff auf die Lebensbedingungen der Bevölkerung, andererseits das Erstarken von Nationalismus und Fundamentalismus. Wir leiden unter massiven Repressalien, es gibt einen enormen Druck. Die Linke entwickelt unter diesen Bedingungen eine Belagerungsmentalität, das ist verständlich. Das Gegentreffen war für bestimmte Strömungen, gerade für die Maoisten und die Leninisten, eine Gelegenheit, ihre Kritik an der Linie der beiden etablierten und einflussreichen kommunistischen Parteien zu äußern.

Wie äußert sich der Konflikt zwischen den Veranstaltern des Weltsozialforums und der Mumbai Resistance?

Der Konflikt wird deutlich an der Frage der Geldbeschaffung. Ich habe selbst erlebt, wie die kommunistische Regierung in Westbengalen Hexenjagden auf Organisationen, die von ausländischen Geldgebern finanziert wurden, veranstaltet hat. Nun hat die Kommunistische Partei ihre Linie gegenüber den so genannten Nicht-Regierungsorganisationen geändert, was von den Strömungen links von ihr als Verrat empfunden wird. Dieselbe Kritik wird am WSF geübt. Gerade die Ford Foundation, die in der Vergangenheit das WSF mitfinanziert hat, hat eine dubiose Rolle in der indischen Geschichte gespielt. Wegen der Kritik von außen wurde in Bombay zum ersten Mal auf das Geld der Ford Foundation verzichtet, ohne dass eine grundsätzliche Debatte über die Frage der Finanzierung stattfinden würde. Wir brauchen eine solche grundsätzliche Debatte über die verschiedenen Formen der Geldbeschaffung, der jetzige Zustand ist eindeutig unbefriedigend. Die fortschrittlichsten NGO sprechen ja heute statt von »Entwicklungshilfe« lieber von »internationaler Solidarität«. Wir müssen solche Solidarität akzeptieren können, ohne uns so in Abhängigkeit zu begeben. Ich habe da selbst keine fertige Antwort.

Die Abschlussrede der umstrittenen Autorin Arundhati Roy während des WSF ist auf scharfe Kritik gestoßen, weil sie zum Widerstand gegen die amerikanische Besatzung im Irak aufgerufen hat. Was ist Ihre Position dazu?

Die indische globalisierungskritische Bewegung ist wesentlich beeinflusst von den Ideen Mahatma Ghandis über gewaltlosen Widerstand. Aber viele argumentieren, dass auch bewaffneter Kampf im Fall eines nationalen Befreiungskampfes angebracht ist. Indiens Unabhängigkeit wurde durch beides erreicht. Ich glaube, viele kritisieren die Rede, ohne sie wirklich verstanden zu haben. Auch wenn ich Roys Position persönlich nicht teile, muss es für sie und solche wie sie einen Platz in unserer Bewegung geben.

Wo sehen Sie noch Chancen für die globalisierungskritische Bewegung?

Ich sehe drei wesentliche Anforderungen, die wir bewältigen müssen, sonst sind wir am Ende. Erstens müssen wir lernen zuzuhören, wir müssen weg vom Paradigma des Widerstands. Zweitens erleben wir eine wachsende Kluft zwischen der so genannten Zivilgesellschaft, die sich auf dem WSF trifft, und denen, die ich provokativ die Unzivilen nenne: die Unberührbaren, Farbigen, die Stammesangehörigen, die in der Fischerei Tätigen, das ist einer der ärmsten Sektoren der indischen Gesellschaft. Sie sind zu 93 Prozent nicht organisiert und spielen weder beim Mumbai Resistance noch auf dem WSF eine Rolle. Wir müssen ihren separatistischen Tendenzen widerstehen, aber gleichzeitig ihre Forderungen aufnehmen.

Drittens müssen wir uns gerade wegen des Fundamentalismus für religiöse Gruppen öffnen. Religion spielt für viele eine entscheidende Rolle im Leben, aber auch sie werden ausgeschlossen.