»Pinochet ist ein lebendes Symbol«

Tomás Moulián

Der Soziologe Tomás Moulián gilt als wichtigster Intellektueller der außerparlamentarischen Linken in Chile. Kurz vor dem 30. Jahrestag des von Augusto Pinochet kommandierten Militärputsches, der die »Revolution von Empanada und Rotwein« – wie das chilenische Experiment mit dem Sozialismus genannt wurde – beendete, interviewte Andrés Pérez González den Autor des Buches »Chile actual, anatomia de un mito« (»Das gegenwärtige Chile. Anatomie eines Mythos«).

Wie wird Augusto Pinochet heutzutage wahrgenommen?

Er wird ganz unterschiedlich wahrgenommen, je nachdem, von wem. Ich selbst behalte das Bild eines Verräters bei, und das werde ich immer tun. Für mich ist er jemand, der den Verrat bis an die Grenze zur Tragödie getrieben hat. Der ehemalige sozialistische Präsident Salvador Allende ist der Vater seiner Macht. Pinochet wurde sozusagen an dem Tag geboren, an dem er von Allende zum Armeechef ernannt wurde. In diesem Sinne könnte man sagen, dass Pinochet seinen Vater umgebracht hat. Es war für ihn notwendig, den Vater umzubringen, um seine eigene Macht zu begründen. Dies muss als symbolischer Schlüsselakt, nicht nur als pragmatischer Akt verstanden werden.

Wie lässt sich erklären, dass ein Teil der chilenischen Gesellschaft noch immer die Diktatur rechtfertigt?

Einerseits ist Pinochet erfolgreich gewesen. Das ist der Unterschied zwischen Pinochet und dem argentinischen Diktator Jorge Rafael Videla. Videla konnte man ins Gefängnis werfen, und in Argentinien passierte absolut nichts. Jeder konnte ihn auf der Straße anspucken, und nichts geschah. Pinochet hingegen ist für einige immer noch ein lebendes Symbol. Tendenziell entzweit er das Land für immer.

Es gibt da eine pinochetistische Masse. Pinochet bekam 42 Prozent der Stimmen in dem Plebiszit (von 1988, das den umstrittenen Übergang zur Demokratie einleitete; d. Red.). Das ist ein Abbild Chiles. Ein Teil des Landes findet sich in Pinochet wieder – das autoritäre Chile. Das ist eine Tatsache, die wir anerkennen müssen.

Pinochet kann also nicht als isolierte Figur, als eine Art »politisches Monster«, aus sich selbst heraus verstanden werden?

Pinochet zwingt uns dazu, uns einen Spiegel vorzuhalten, und das Bild von Chile, das in diesem Spiegel erscheint, ist nicht das Bild eines idealisierten und mythischen Chile, das wir im Kopf haben. Es ist nicht das Bild eines Chile, das unsere Eliten und unsere Politiker, unsere Historiker, Intellektuellen und wir alle uns wünschen. In Pinochet offenbart sich ein verfluchtes Chile.

Pinochet antwortete auf die Schwäche unserer bürgerlichen Klasse, auf die Tatsache, dass der chilenische Kapitalismus so wenige Kapitalisten hatte und dass es der Staat war, der diesen Kapitalismus hervorbrachte. Es ist ein Kapitalismus, der von oben geschaffen wurde. Gegen diesen von oben geschaffenen Kapitalismus haben sich die Pinochetisten gesammelt, mit Pinochet an der Spitze, um die Gesellschaft, diesen Typ von Kapitalismus, zu verändern und den wirklichen neoliberalen Kapitalismus zu schaffen. So wird aus Pinochet diese monströse, aber historisch notwendige Gestalt, so wie Robespierre in der Französischen Revolution notwendig war.

Das würde bedeuten, dass Pinochet im kollektiven Imaginären weiter existieren wird, auch wenn er gestorben sein wird.

Pinochet hat sich in eine symbolische Persönlichkeit verwandelt. Er existiert nicht als Individuum, sondern als Symbol. Irgendwie hat er die Symbolik des Antifaschismus wiederbelebt. Alle Welt sieht in ihm den Faschisten, was aber ein historischer Irrtum ist, weil der Faschismus nie wirtschaftsliberal war. Aber das hat nichts zu sagen, weil in dem Imaginären, das über Pinochet konstruiert wurde, sich die demokratischen Hoffnungen vieler Menschen auf der Welt verdichten.

Die chilenische Rechte behandelt ihn nicht als Diktator, weil sie sagt, dass er die Macht freiwillig abgab.

Er hätte gerne weiter regiert. Es ist vollkommen falsch, zu behaupten, dass er die Macht aus freien Stücken abgegeben hat. Er war dazu gezwungen, denn während er die Arbeit durchführte, die der weltweite Kapitalismus in Chile erforderte, wurde er bereits vollkommen entbehrlich, weil er ein Bild abgab, das mit all diesen symbolischen Elementen befrachtet war. Es wurde dann jemand benötigt, der den Neoliberalismus humanisieren und demonstrieren konnte, dass der Neoliberalismus ohne Autoritarismus möglich ist. Das war die historische Rolle der Concertación in Chile.

Die historische Voraussetzung für die Concertación, also für das Regierungsbündnis, das nach Pinochets politischem Ende verschiedene Mitte-Links-Parteien an der Macht vereinigte, war, dass Pinochets Einfluss eingeschränkt wurde.

Die wirkliche Furcht der ersten Regierung (des Christdemokraten Patricio Aylwin, 1990 bis 1994; die Red.) war nicht die Furcht vor den Militärs, sondern vor dem ökonomischen Chaos. Wäre es zu einer heftigen Störung der chilenischen Ökonomie gekommen, wären die Militärs offenbar imstande gewesen zurückzukehren, dann wären sie erneut notwendig gewesen.

Muss man in gewisser Weise davon ausgehen, dass die Diktatur gesiegt hat, wenn man sich mit diesem verborgenen, aber weiter wirksamen Militarismus und Autoritarismus beschäftigt?

Das kulturelle Panorama in Chile ist uneinheitlich. Es gibt diese Dimensionen, allerdings im Kampf mit anderen. Die autoritären Dimensionen sind in der politischen Kultur Chiles immer präsent gewesen. Wir haben sie nur einfach nicht gesehen. Dieser offensichtliche Autoritarismus manifestiert sich in einer wahren Besessenheit, was die öffentliche Sicherheit betrifft, in einem Land, in dem die Delinquenz zwar gestiegen ist, aber vergleichsweise keineswegs ein so hohes Niveau erreicht hat, wie die Chilenen glauben. Aber man ist besessen von der öffentlichen Sicherheit, von privatem Wachpersonal, davon, das Land mit Gefängnissen und Schutzvorrichtungen für das Privatleben vollzustopfen.

Ist das Thema der Aussöhnung unter den Chilenen noch unerledigt?

Es ist vollständig unerledigt. Oder besser gesagt, die Aussöhnung kann es niemals geben. Aussöhnung ist ein unbrauchbares Wort. Aussöhnung heißt Brüderlichkeit. Das heißt, es gibt sozusagen zwei Brüder, die zwar durch einen Kampf getrennt sind, aber ihre gemeinsame Abstammung anerkennen, die anerkennen, dass das gleiche Blut durch ihre Adern fließt; aber es ist nicht das gleiche Blut, das durch die Adern der Pinochetisten und der Anti-Pinochetisten fließt. Das Thema Aussöhnung ist ein falsches Thema, das absolut schlecht eingeführt wurde. Wir sollen demnach lernen, tolerant zu leben, aber zu dem Zweck, den Folterer zu lieben. Das ist eine rein mystische Illusion. Aussöhnung ist ein Wort aus der theologischen Sprache, die die politische Sprache ersetzt hat.

Natürlich können wir sagen, dass wir aus praktischen und ethischen Gründen in Frieden leben müssen, um die Schlächtereien, die Sankt-Bartholomäusnächte nicht zu wiederholen. Ich bin nicht der Bruder eines Verschwundenen, ich habe auch keinen Verschwundenen in meiner Familie, aber ich söhne mich nicht mit denen aus, die die verschwundenen Gefangenen getötet haben, oder mit denen, die gefoltert haben.

Hat Pinochet noch eine politische Bedeutung?

Heutzutage ist die politische Bedeutung Pinochets geringer, aber er wird immer der Schöpfer des neoliberalen Systems bleiben, und deshalb hat die Geschichte ein unsichtbares und unheilvolles Band zwischen der Concertación und Pinochet hervorgebracht. Die Concertación wird sich niemals von der Tatsache freimachen können, dass sie Pinochets System fortgesetzt hat.