Republik ohne Angst

Demokratisierung im Irak von jörn schulz

Es waren nicht US-Soldaten, die die letzte Synagoge in Bagdad schützten, in der noch Gottesdienste stattfinden. Eine Gruppe muslimischer Nachbarn vertrieb die Plünderer mit Warnschüssen. »Die Juden haben immer in diesem Haus gelebt, und es ist nur normal, dass wir es schützen«, erklärte Ibrahim Mohammed der britischen Tageszeitung The Independent.

Viele der 10 000 Demonstranten, die am Freitag in Bagdad für einen Abzug der US-Truppen demonstrierten, dürften andere Vorstellungen von Normalität haben. Hier wurde die Forderung nach einer »islamischen Nation« erhoben auch Plakate der antisemitischen Muslimbruderschaft waren zu sehen.

Die schiitischen Pilgermärsche nach Kerbala werden dieser Tage wahrscheinlich ebenfalls in große Demonstrationen für einen Abzug der US-Truppen münden. Bakir al-Hakim, Vorsitzender des Obersten Rats für die Islamische Revolution im Irak (Sciri), kündigte in einem Interview mit al-Ahram Weekly »erbitterten bewaffneten Widerstand« für den Fall an, dass die Koalitionstruppen sich als Besatzungsmacht etablieren.

Sciri und die schiitische Da’wa-Partei nehmen nicht an den Verhandlungen über eine Regierungsbildung unter US-amerikanischer Regie teil, halten aber an den mit anderen Oppositionsgruppen getroffenen Vereinbarungen über ein demokratisches System fest. Der schiitische Islamismus ist zum Teil eine aggressive Abwehrreaktion auf die religiöse Unterdrückungspolitik des alten Regimes. Die nun gewonnene Religionsfreiheit könnte den schiitischen Islamisten den Wind aus den Segeln nehmen, und Sciri und Da’wa werden erst beweisen müssen, ob sie tatsächlich den Einfluss haben, den sie sich zuschreiben. Islamistische Parolen, die Ordnung und Gerechtigkeit versprechen, dürften jedoch einige Anziehungskraft haben.

Das zentrale Problem der politischen Neuordnung ist die vom alten Regime hinterlassene gesellschaftliche Fragmentierung. Ethnische und religiöse Gruppen wurden gegeneinander ausgespielt, der Terror und die vollständige Zerschlagung aller sozialen Organisationsformen warfen die Menschen zurück auf die Verwandtschaftsverhältnisse und säten Hass und Misstrauen auch in den Familien.

In der nordirakischen Autonomieregion gelang es jedoch erstaunlich schnell, die sozialen Folgen des Ba’athismus weitgehend zu beseitigen. Und im Rest des Landes scheinen Jahrzehnte der ideologisch überladenen Propaganda eine im besten Sinne des Wortes realpolitische Haltung erzeugt zu haben. Die Irakis haben die Koalitionstruppen ihren Krieg gegen das Regime austragen lassen, ohne sich einzumischen. Anschließend versuchten sie, die ba’athistische Infrastruktur möglichst gründlich zu zerstören und verschmähten es nicht, dabei ein paar Gebrauchsgegenstände mitzunehmen. Als die Plünderungen exzessive Ausmaße annahmen, bildeten sich an vielen Orten Selbsthilfegruppen. Den Koalitionstruppen tritt die Bevölkerung selbstbewusst und fordernd entgegen.

Eine Garantie für die erfolgreiche Demokratisierung ist das nicht. Aber die von dem irakischen Oppositionellen Kanan Makiya beschriebene »Republik der Angst« ist überwunden, und es wird niemandem mehr so leicht gelingen, die Bevölkerung einzuschüchtern.