Keinen Fußbreit der Kolonne

Für die tschechische Bevölkerung gehören die Benes-Dekrete zum Selbstverständnis des heutigen Staates.

Zum Abschluss seiner Prager Stippvisite gab sich Joseph Fischer am Mittwoch vergangener Woche versöhnlich. Im Gespräch mit dem tschechischen Ministerpräsidenten Milos Zeman hätten »Irritationen« ausgeräumt werden können. Natürlich sei die Vertreibung der Sudetendeutschen »für uns immer Unrecht« gewesen, betonte der Grüne im Stil eines Vertriebenenfunktionärs. Aber es gebe »beachtenswerte« Versöhnungsansätze, zu denen auch »sehr hoffnungsvolle Signale seitens der Vertreter der Sudetendeutschen« gehörten. Es müsse nun weiter daran gearbeitet werden, die »noch vorhandene Bitterkeit bei der Erlebnisgeneration auf beiden Seiten zu überwinden, Schritt für Schritt und mit der notwendigen Sensibilität«, verkündete Fischer generös.

Zeman machte gute Miene zum bösen Spiel der Vermischung von Tätern und Opfern. Unmittelbar vor Fischers Besuch hatte die missverständliche Wiedergabe einer Äußerung des Sozialdemokraten über den PLO-Vorsitzenden Yassir Arrafat für erhebliche Verstimmungen in der EU gesorgt. Nun versuchte er, die Wogen zu glätten. Er vermied daher eine Konfrontation mit dem deutschen Außenminister, nahm aber trotzdem nichts von dem zurück, was er in den Wochen zuvor über die von Fischer so gelobten Sudetendeutschen gesagt hatte. Schließlich hatte Zeman sie nur als das bezeichnet, was sie vor der Zerschlagung der Tschechoslowakischen Republik tatsächlich waren, die »fünfte Kolonne Hitlers«. In deutschen Zeitungen brachte ihm das Titulierungen wie »notorischer Vertreiber«, »Grobian vom Dienst« oder »Polterer aus Prag« und Spekulationen über seinen Geisteszustand ein.

In Tschechien dagegen hielt sich die Aufregung über Zemans Äußerungen in Grenzen. Denn »hoffnungsvolle Signale« von den Vertriebenenverbänden kann höchstens ein deutscher Politiker entdecken. In der tschechischen Republik glaubt daran niemand. Zwar halten nicht wenige die Formulierungen Zemans, der sich gerne als der »provokanteste Politiker Europas« bezeichnet, für etwas undiplomatisch. Doch in der Sache selbst wird ihm über die Parteigrenzen hinweg Recht gegeben.

Zu geschichtsvergessen agieren die Nachfahren der sudetendeutschen Nazi-Parteigänger, zu laut reklamieren sie bis heute ihre Ansprüche auf »Wiedergutmachung«. Entsprechend gibt es in der tschechischen Bevölkerung keinen Streit um die in Deutschland und Österreich verteufelten Benes-Dekrete, in denen unter anderem die Enteignung und Aussiedlung der Deutschen, Ungarn und anderer »staatlich unzuverlässiger Personen« geregelt wurde. Dass sie weiterhin ihre Rechtsgültigkeit behalten müssen, darüber besteht ein Konsens von den Kommunisten bis zu den Konservativen.

Wie könnte auch die tschechische Bevölkerung in den Sudetendeutschen die armen Opfer sehen, als die sie in Deutschland und Österreich präsentiert werden? Das hieße zu vergessen, dass sich über 90 Prozent in der Zwischenkriegszeit gegen die einzige Demokratie in Osteuropa entschieden und gemeinsam mit der Sudetendeutschen Partei des Hitler-Verehrers Konrad Henlein jubelnd ins Dritte Reich marschierten. Zudem besteht bei vielen Tschechen die Befürchtung, dass die Aufhebung der Dekrete ein Einfallstor für alle Forderungen der Nachfahren sein könnte.

Und diese Angst ist berechtigt. Immerhin gehört es zu den in der Satzung verankerten Zielen der Sudetendeutschen Landsmannschaft in der Bundesrepublik, »die Rückgabe des konfiszierten Vermögens auf der Basis einer gerechten Entschädigung zu vertreten« und »den Rechtsanspruch auf die Heimat, deren Wiedergewinnung und das damit verbundene Selbstbestimmungsrecht der Volksgruppe durchzusetzen«. Dieses Ziel möchte der Revanchistenverein nun auch vor Ort verfolgen. Am 1. April will die Landsmannschaft eine »Verbindungsstelle« in Prag eröffnen, kündigte der Bundesvorsitzende Bernd Posselt an.

Die Sudetendeutsche Landsmannschaft in Österreich geht in ihren Forderungen noch weiter. Deren Obmann, Gerhard Zeihsel, verlangt nicht nur eine finanzielle Entschädigung, sondern auch die Aufhebung des Amnestiegesetzes vom Mai 1946, mit dem jene Handlungen zwischen 1938 und 1945 für straffrei erklärt wurden, »deren Zweck es war, einen Beitrag zum Kampf um die Wiedergewinnung der Freiheit der Tschechen und Slowaken zu leisten oder die eine gerechte Vergeltung für die Taten der Okkupanten und deren Helfershelfer zum Ziel« hatten. Dieses Gesetz verhindere, so der FPÖ-Politiker, »eine Verfolgung von heute noch lebenden bekannten Mördern an wehrlosen Sudetendeutschen«.

Es ist daher wenig überraschend, dass in Tschechien die von Zeman seit Jahren vertretene Auffassung, es sei völlig unakzeptabel, »die Erben jener zu respektieren, die Hitlers fünfte Kolonne waren«, weit verbreitet ist. Auch für die größte Oppositionspartei Tschechiens, die konservative Demokratische Bürgerpartei (ODS) des Parlamentspräsidenten Václav Klaus, sind die Benes-Dekrete nicht verhandelbar. Nach Ansicht von Jan Zahradil, dem ODS-Schattenaußenminister, wäre das Beharren auf der Aufhebung der Dekrete sogar »ein Grund, nicht der Europäischen Union beizutreten«.

An die Adresse von Zemans sozialdemokratischem Minderheitskabinett richtete Klaus zudem die Forderung, im tschechischen EU-Beitrittsvertrag eine »exklusive Klausel« zur unumstößlichen Rechtsgültigkeit der Benes-Dekrete zu verankern. Die von Zeman in seinem Gespräch mit Fischer in Aussicht gestellte humanitäre Geste Tschechiens an sudetendeutsche Hitler-Gegner lehnt die ODS ab. Dies wäre für Klaus der erste Schritt auf eine »schiefe Ebene«, die »definitiv« zur Revision der tschechischen Eigentumsverhältnisse führen würde.

Nicht einmal Staatspräsident Václav Havel, der Intimfeind von Zeman und Klaus, der ansonsten stets um das beste Verhältnis zu Berlin bemüht ist, scherte aus dem Kreis der Bewahrer der Benes-Dekrete aus. Zwar kritisierte er Zeman, die deutsch-tschechischen Beziehungen seien »empfindliches Terrain«, auf dem man »vorsichtig wandeln« und sich »weniger bunter Ausdrucksmittel« bedienen müsse, aber in der Sache selbst gab er sich unnachgiebig. Die Dekrete stellten einen Bestandteil der Geschichte des tschechischen Rechtsstaates dar und könnten daher nicht einfach aufgehoben werden. »Ich glaube nicht, dass es überhaupt denkbar ist, irgendwelche Eigentumsforderungen oder Restitutionen zu erwägen.«

Rückendeckung bekommen die deutschen und österreichischen Revanchisten hingegen vom ungarischen Regierungschef Viktor Orban. Der Ministerpräsident, dessen liberal-konservative Koalitionsregierung stramm nationalistisch ausgerichtet ist, forderte am vergangenen Mittwoch, die Benes-Dekrete müssten mit dem Beitritt Tschechiens und der Slowakei zur EU aufgehoben werden. Zeman und der slowakische Ministerpräsident Mikulas Dzurinda reagierten umgehend. Aus Protest gegen das »unangebrachte« Anliegen sagten sie ihre Teilnahme an dem für den ersten März in Budapest geplanten Treffen der EU-Aufnahmekandidaten Ungarn, Tschechien, Polen und Slowakei ab.

Und noch ein anderes Treffen steht auf der Kippe. Auch nach dem Besuch von Fischer in Prag bleibt es unklar, ob Gerhard Schröder Ende März seinen Amtskollegen Zeman besuchen wird. Der Bundeskanzler habe sich noch nicht entschieden, verbreitete das Bundespresseamt. Die tschechische Tageszeitung Pravo berichtete bereits nach Fisches Treffen mit Zeman, dass Schröders Besuch »offenkundig nicht zum geplanten Termin am 22. und 23. März zustande kommen« werde. Denn Schröder stehe weiterhin »unter ziemlich starkem Druck«, sich von seinem tschechischen Genossen wegen dessen Bezeichnung der Sudetendeutschen als »fünfte Kolonne Hitlers« zu distanzieren. Das Lavieren Schröders ist verständlich: Die Anerkennung geschichtlicher Tatsachen kann Wählerstimmen kosten.