Ein neues Gesetz in Frankreich regelt die Ansprüche Behinderter

Geburt ist kein Schadensfall

Um zu verhindern, dass ein Behinderter rechtlich als Schadensfall bewertet wird, den es zu verhindern gilt, hat die französische Nationalversammlung Mitte Januar den Gesetzesvorschlag des liberal-konservativen Abgeordneten Jean-François Mattéi angenommen. Die Loi Mattéi schreibt im ersten Artikel vor: »Niemand hat das Recht, einen Schadensersatz aufgrund der Tatsache seiner Geburt zu verlangen.«

Diese Klarstellung war nötig, da im November 2000 die obersten Richter in Straf- und Zivilangelegenheiten einem Behinderten, dem heute 18jährigen Nicolas Perruche, ein Recht auf Schadensersatz zuerkannt hatten. Das Gericht hatte entschieden, dass dem geistig und körperlich schwer behinderten jungen Mann ein Schadensersatz von dem Arzt zusteht, der seine Mutter während ihrer Schwangerschaft behandelt hatte. Dieser hatte die Auswirkungen einer Rötelninfektion auf den Fötus nicht richtig diagnostiziert. Die Mutter hatte dem Arzt zuvor nahe gelegt, im Falle einer Schädigung des Fötus die Schwangerschaft abzubrechen.

Nimmt man dieses Urteil rechtsdogmatisch ernst, ergibt sich ein erhebliches Problem. Man kann nämlich rechtlich nur dann dem Betreffenden einen Schadensersatzanspruch zubilligen, wenn man seine Nichtabtreibung als Ursache eines nicht wieder gutzumachenden Schadens ansieht. Das bedeutet, wenn man in dieser Logik weiterdenkt, dass man davon ausgeht, der mit Behinderungen geborene Mensch wäre besser nicht auf die Welt gekommen.

Oliver Tolmein (Jungle World, 3/02) interpretiert das Urteil dementsprechend auch als Befürwortung von eugenischer Auslese und Euthanasie. Es ist aber nicht anzunehmen, dass die Richter eine solche Absicht hegten, als sie das Urteil fällten. In ihrer Urteilsbegründung steht eindeutig, dass sie darauf aufmerksam machen wollten, dass die staatliche Unterstützung, die behinderten Kindern und ihren Eltern zukommt, viel zu gering bemessen ist.

Aus diesem Grund handelten sie, in ihren Augen, pragmatisch und verhalfen den Eltern zu größtmöglichen Ansprüchen auf Unterstützung. Daher sprachen sie ihnen eine Aufwandsentschädigung für die Mehrkosten zu, die die Fürsorge für ihr Kind erfordert. Da diese Ersatzansprüche aber gering ausfallen (zwischen 50 000 und 80 000 Euro), wollten die Richter den Eltern einen zusätzlichen Anspruch eröffnen - diesmal in ihrer Eigenschaft als gesetzliche Vertreter ihres (nicht rechtsmündigen) Sohnes. Diesen Anspruch können sie gegen die Sozialkassen und die Versicherung des Arztes geltend machen. Im Fall Perruche beläuft er sich maximal auf drei Millionen Euro.

Auch das neue Gesetz enthält einen Passus, der die Ansprüche von Eltern behinderter Kinder gegenüber den Ärzten regelt. So sollen sie, in ihrem Namen und nicht in dem ihres behinderten Kindes, einen höheren Schadensersatz von den Ärzten und den Sozialkassen wegen der Verletzung der ärztlichen Aufklärungspflicht verlangen können.

Diese Bestimmung ruft allerdings Kritik bei den Behinderten- und Elternverbänden hervor, die gleichzeitig die grundsätzliche Richtung des neuen Gesetzes begrüßen. Ihrer Ansicht nach wäre es besser gewesen, nicht den Eltern eines bestimmten Kindes, die sich auf einen ärztlichen Kunstfehler berufen können, einen individuellen Anspruch zuzuerkennen, sondern generell die Versorgung aller Behinderten zu verbessern. Sie gehen davon aus, dass es nicht um die Frage eines individuellen Ersatzanspruchs gehen darf, sondern um »gesamtgesellschaftliche Solidarität«.