Der Autonomia-Aktivist Oreste Scalzone über die Gewaltfrage

»Wir erliegen einem Wahn«

»Genossen und Genossinnen! Haltet euch fern von Genua!« Diesen Rat erteilte der Altautonome Oreste Scalzone dem radikalen Teil der Antiglobalisierungsbewegung vor einigen Wochen. Scalzone wurde am 7. April 1979 in Italien im Zuge der Repression gegen die Autonomia verhaftet, aus gesundheitlichen Gründen aber wieder aus der Haft entlassen. Anschließend wurde er zu neun Jahren Gefängnis verurteilt. Er entzog sich dem Haftantritt durch die Flucht nach Frankreich, das sich bislang geweigert hat, ihn an Italien auszuliefern. Das Interview mit Scalzone führte Paolo Fiore. Es erschien am 26. Juli in Il Nuovo.

Wie beurteilen Sie die Tage von Genua?

Alles ist derart absurd und widerspricht sich selbst. Wie kann man das Bestehende ablehnen und dann zum Demonstrieren noch Vergünstigungen, Unterbringung und die Bereitstellung von Dienstleistungen einfordern? Wie kann man wochenlang eine »Medienguerilla« propagieren, indem man sagt, »wir werden die Rote Zone übertreten, wir werden durchbrechen«, indem man eine zwanghaft militärische und kriegerische Symbolik verwendet, und das unter dem Vorbehalt, »selbstverständlich ist alles nur metaphorisch gemeint, spielerisch, lasst uns nur machen, wir kommen mit Wasserpistolen«. Und das alles, um danach denen, die tatsächlich mit Steinen kommen, oder, ebenfalls symbolisch, Fenster von Banken einwerfen, zu sagen, dass sie ungeschliffen seien, dass sie keine Anspielungen verstünden, keinen Humor besäßen und alles ruiniert hätten?

Ein Aufruhr, eine wutentbrannte Sabotage an Symbolen und Sachen wird zum Undenkbaren. So sehr, dass man sich in einem Wahn von klinischem Rang als einzige Erklärung »Polizeiprovokationen« einbilden kann.

Wie kann man nur dagegen protestieren, dass in Ancona die griechischen Anarchisten von der Polizei aufgehalten und zurückgewiesen worden sind, und dann die Regierung und die Ordnungskräfte beschuldigen, dass sie in Genua die Randalierer nicht aufgehalten hat? Dies hätte eine weitere Militarisierung der Stadt erfordert. Wie kann man bloß diejenigen, die Steine geworfen und Banken entglast haben, Rowdys und Barbaren nennen und dann den Tod von Carlo Giuliani damit in eine Reihe bringen? Wer war denn der lebendige Carlo, mit seinem Feuerlöscher in den Händen? Wenn er - wie erklärt wird - aus keinem bestimmten Bereich kam, so heißt das nur, dass es Tausende waren, die bei den Zusammenstößen dabei waren! Wir erliegen einem Wahn.

Die Gewaltfrage und die Unterscheidung von »guten« und »bösen« Protestierern steht gegenwärtig im Mittelpunkt der Debatte. Was halten Sie davon?

Die Gewaltfrage ist ein Gradmesser. Es gibt hier niemanden, der eine Ethik oder Ästhetik der Gewalt hat. Persönlich habe ich großen Respekt vor der Gewaltfreiheit, der echten, die bei Thoreau, bei Gandhi, aber auch bei Dolci oder Capitini ihren Ursprung hat. Sie ist als eine ziemlich radikale, bestimmt nicht gesetzeskonforme, schon gar nicht kompromisslerische Kampfform entstanden. Mehr als scheinheilig finde ich den Diskurs derer, die erst die Welt so darstellen, dass die Leute wie im Kielraum der Titanic ausgebeutet werden, und die dann, sobald die Scheiben klirren, mit der Ethik daherkommen. Eine ethische Frage lässt sich im Hinblick auf eine Person stellen, aber keinesfalls hinsichtlich der Sabotage von Waren, die mitunter sogar töten.

An den Auseinandersetzungen in Genua haben etliche tausend Leute teilgenommen, nicht nur der Schwarze Block allein. Jetzt wird gesagt, dass die Leute vom Schwarzen Block in Wahrheit verkleidete Polizisten und Carabinieri waren, und als Beweis dafür werden schwachsinnige Fotos vorgelegt. Seit die Welt besteht, verkleiden sich die Ordnungshüter und stiften zu Aktionen an, zu Ausschreitungen, um Leute identifizieren und verhaften zu können.

Es gibt Polizisten in Uniform, in Zivil, es wird vermutlich als Tute nere, bianche oder Nonnen verkleidete Polizisten gegeben haben. Dagegen verbreiten Agnoletto, Casarini (Aktivisten des Genoa Social Forums und der Tute Bianche, E.G.) und il manifesto die These, dass die Zusammenstöße allein von einer Horde Barbaren oder, schlimmer noch, von eingeschleusten Agenten provoziert wurden. Eine unzulässige Lüge, die nicht durchgehen darf. Wie die andere Lüge, die sich viele vormachen: Dass all das, was passiert ist, nicht geschehen wäre, gäbe es noch die Mitte-Links-Regierung. In Genua haben alle verloren: Die Großen, denen, so wie in vergangenen Zeiten die Kaiserkrönung, das Gipfelspektakel als starke symbolische Botschaft dienen sollte. Die Linksdemokraten, deren konfuser Zustand vor aller Welt sichtbar wurde, Berlusconi, der mit dem Vorgefallenen sicher nicht zufrieden sein kann. Und das Genoa Social Forum hat gleichfalls verloren, was auch immer Agnoletto sagt, geschweige denn die Tute bianche.

Die Öffentlichkeit scheint in diesen Tagen besonders wachsam zu sein. Das brutale Vorgehen der Ordnungshüter hat viele schreckliche Szenen in Erinnerung gerufen, und viele sprechen von der chilenischen Erfahrung. Glauben Sie, dass die Schraube angezogen wird, dass die Freiheit, eine abweichende Meinung zu haben und zu demonstrieren, in Gefahr ist?

Ich halte es für sehr unwahrscheinlich, dass es heute in Italien tatsächlich zu einer Aufhebung der Verfassungsgarantien kommen wird, die etwa den Arbeitern untersagen würde, zu streiken oder auf die Straße zu gehen. In den siebziger Jahren glaubte ich nicht, dass es in Italien zur Errichtung eines mit der griechischen Militärdiktatur vergleichbaren Regimes kommen würde. Mit noch mehr Grund glaube ich heute nicht, dass es Bedingungen für dergleichen gibt, trotz der Umbildung der bürgerlich-kapitalistischen Schichten, Vermittlungen und Institutionen, als deren immer deutlicher werdender Ausdruck sich die Regierung Berlusconi herausstellt.

Berlusconi erscheint immer mehr als Bühnendarsteller, aufgestellt von Leuten, die das klassische Establishment des Kapitalismus verkörpern, auch in seiner sozusagen italienischen Prägung.

Ihre Kritik am Genoa Social Forum ist sehr hart. Sie ordnen sie nicht einem Angriff auf die Mitte-Rechts-Regierung oder auf die Ordnungskräfte in Genua unter.

Na gut, das ist ein wenig wie bei den Fußballfans. Wenn die eigene Mannschaft verliert, hadert man viel lieber mit dem eigenen als mit dem gegnerischen Trainer. In der Führung der Polizeikräfte hat es eine Art historischen Kompromiss gegeben: Die Posten der ausführenden Chefs sind bekanntlich streng mit linksdemokratischen Gewährsleuten besetzt, gemeinhin mit violantini, benannt nach Luciano Violante. (Strafrechtler, ehemals Mitglied der Kommunistischen Partei Italiens, heute Demokratischer Sozialist, E.G.) Die Mitte-Rechts-Regierung trägt die politische Verantwortung.

Die Kritik an denen, die als Führer der Bewegung gehandelt haben, ist dagegen auch notwendig. Sie ist von jeglichem Ressentiment frei. Es ist eine Kritik, die nur dann ad acta gelegt werden kann, wenn der Wille da ist, alles noch einmal zu diskutieren, eine wirkliche Auseinandersetzung auf allen Ebenen zu beginnen.

Man braucht weder der alten Linken - ob sozialdemokratisch, realsozialistisch oder anders - nachzuweinen noch auf genauso schlimme, wenn nicht manchmal sogar schlimmere Neuauflagen hereinzufallen. Man muss sich davon trennen. Es muss vom zentralen Thema der Arbeit, die nunmehr die gesamte Lebenszeit der Leute durchdringt, ausgegangen werden; die Arbeit, die scheinbar ihren Zugriff auf das Menschenleben lockert, da ihr Umfang nicht mehr auszumachen ist, weil sie danach strebt, total zu werden. Es ist ein langer und schwieriger Weg. Wir müssen neue Initiativen und Kampfformen entdecken, an der Basis starten: Indem wir zu überlegen beginnen, was auf lokaler und planetarischer Stufe das aktuelle Äquivalent der früher im Streik verkörperten wesentlichen Antriebskraft ist.

© www.ilnuovo.it; Übersetzung: Egon Günther