Die Tour de France nach der Doping-Krise

Vive le Lance

Erst nach der Doping-Krise von 1998 ist die Tour de France mächtig geworden. Lance Armstrong und Jan Ullrich sind die Helden einer Zwischenperiode.

Im Jahr 1997 hatte Jan Ullrich sie gewonnen, im Jahr drauf, 1998, wurden ihre Helden verhaftet, nicht jedoch Ullrich, aber sie selbst, die Tour de France, galt als tot. Suizidal totgespritzt, diagnostizierten die einen, ermordet und gemeuchelt von einer kommunistischen Sportministerin sagten die anderen.

Aber 1999 gewann Lance Armstrong die Tour. Er hatte gerade seinen Hodenkrebs besiegt, was gewiss eine Analogie zur Todesdiagnose für die Tour im Jahr zuvor darstellt. (Schließlich ist die Tour de France nach Roland Barthes ein »homerisches Epos«.) Armstrong hatte das Zeug zum neuen Helden. Seine Autobiographie, die er im Alter von 27 Jahren veröffentlichte, wurde zum Bestseller. Er legte ein völlig überflüssiges Büchlein über Trainingsmethoden nach, das sich auch exzellent verkaufte.

Im Jahr eins nach ihrem Tod hatte die Tour de France also einen neuen Helden, einen, der ihr gleich einen neuen, gigantischen Markt erschloss: die USA. Es hatte zwar von dort schon mal einen Tour-Sieger gegeben, aber dieser Greg Lemond wurde von den US-Zeitungen so lange nur im Ergebnisdienst behandelt, bis er sich zur Französisierung seines Namens entschloss, plötzlich Greg LeMond hieß und für europäische Sponsoren interessanter wurde.

Die Krise von 1998, als der Staat die Tour mit Razzien in den Fahrerunterkünften bedrängte und sogar Sportler unter der Dusche verhaftete, hatte kathartische Wirkung: Die alten Helden waren futsch, der größte von ihnen, Miguel Indurain, hatte ohnehin im Jahr zuvor vom Sport Abschied genommen. Dass 1996 ein Durchschnittsfahrer wie Bjarne Riis die Tour gewinnen konnte, gefolgt von seinem jungen Teamkollegen, dem erst 23jährigen Jan Ullrich, zeigt, dass die internationale Radsportszene in den Jahren 1996 bis 1998 nur über ein knappes Angebot an Helden verfügte.

Die Verhaftungsaktion des französischen Staates war also auch, von der Ministerin sicher nicht gewollt, eine staatsinterventionistische Form von Marktbereinigung: Sie schuf Platz für neue Helden und neue Märkte. Amerika wurde ein neuer Radsportmarkt, Deutschland ebenso. Bis zum Jahr 2010 müsste es den ersten asiatischen Tour-de-France-Sieger gegeben haben, und bis 2020 dürfte auch ein afrikanischer Sieger hinzugekommen sein. Bis dahin wird vielleicht auch Jan Ullrich Joep Zoetemelks Rekord als sechsfacher Tour-Zweiter gebrochen haben.

Die Helden der Jahrhundertwende heißen Lance Armstrong und Jan Ullrich. Der eine fährt für das US-Postal-Team der halbstaatlichen amerikanischen Post, der andere für das Team Deutsche Telekom, einen privatisierten Bereich der früheren Bundespost, was von dem, der solche Betrachtungen im Sport mag, vielleicht als Hinweis auf ein verbliebenes nationalstaatliches Interesse an der Heldenproduktion verstanden werden kann.

Beide, Armstrong wie Ullrich, sind erst durch die Tour zu Helden gereift. Am Anfang waren sie Langweiler, Armstrong fahrerisch, Ullrich medial. Noch vor einem Jahr schrieb Detlev Lücke im Freitag, »Ullrich ist der bad boy sämtlicher Fernsehreporter, die stets den Eindruck vermittelten, ein zweiter Platz beim größten Radrennen der Welt sei der sportliche Supergau. Der schweigsame, immer etwas dröge Mecklenburger, der fürs Fahren und nicht fürs Quatschen bezahlt wird, erfreut sich der fürsorglichen Belagerung bundesrepublikanischer Volkspädagogik.«

Das stimmte vor einem Jahr noch, aber heute ist es vollkommen falsch. Am Anfang, nach seinem Sieg 1997, bemühten sich etliche Medien, aus Ullrich einen gesamtdeutschen Helden zu machen und das Ausland reagierte prompt: Die Daily Mail nannte ihn den »neuen Sultan des Sattels«. Aber Ullrich wurde, spätestens während der gerade zu Ende gegangenen Tour, zu einem Helden, dem auch ein bisschen Tragik anhaftet. Fahrerisch exzellent, was seinen Stil anbelangt: mit ruhigem Tritt fährt er im Sitzen die Berge hoch. Fahrerisch alles andere als exzellent, was seine Variabilität anbelangt: auf einen Antritt kann er kaum reagieren, einen überrschenden Antritt kann er selbst kaum beginnen. Und weniger als nicht-exzellent, was seinen Willen zum Sieg anbelangt.

Aber Ullrich kämpfte, er trug sein Rad nach einem Sturz wieder über die Leitplanke zurück auf die Straße. Hilflos und ohne eine Chance gegen Armstrong attackierte er weiter, aber er war der Einzige im gesamten Fahrerfeld, der überhaupt mit Armstrongs mörderischem Tempo in den Alpen und den Pyrenäen mithalten konnte. Dafür erntete er zu Recht Respekt.

Armstrong als unangefochtene Nummer eins und Ullrich als vermutlich für die nächsten Jahre zur Nummer zwei verdonnerter Fahrer, der diesen Umstand akzeptiert, repräsentieren die Tour de France der Gegenwart. Sie sind das erfolgreiche Angebot, das die Societé du Tour de France der Öffentlichkeit gemacht hat, um die Tour wieder zu beleben und sie noch größer zu machen als je zuvor. Das ist eine sehr große Leistung, denn 1998 war die Tour ja angeblich tot. »Kennt ihr den Tag, an dem die Tour starb?« fragte Peter Unfried in der taz im Juli 1998 und glaubte das Ende allen Hochleistungssports, also des Sports schlechthin, beschreiben zu können. »Zunächst dachte man noch, im nächsten Sommer hätten es alle vergessen, und man könnte wieder von vorne anfangen. Aber nach diesem Freitag ging es ja sehr schnell, Kinder.«

Und Helmut Schümann schrieb in der Berliner Zeitung, bei der Tour würde kein Sport mehr getrieben, die Tour habe sich selbst zerstört. Noch vor einem Jahr glaubte Schümann, diesmal im Tagesspiegel, dass »das Doping die Magie angreift« und nicht das »Reden über Doping«, wie sich ja auch 1998 die Tour »selbst zerstört« habe und nicht von Polizei-Razzien im laufenden Wettkampf behindert worden sei.

Die Gefahr für die Tour bestand eher im Reden über Doping, wozu man wohl auch das Handeln gegen Doping zählen muss, nicht aber den Umstand, dass Fahrer wie andere Menschen auch Medikamente nehmen. Wer aber ist 1998 gestorben? Die Tour nicht, sie existiert einfach weiter. Die Begeisterung für die Tour auch nicht, in Frankreich und anderen radsportbegeisterten Ländern blieb sie, in Deutschland und den USA hat sie zugenommen.

Mit der Rede vom Tod war wahrscheinlich stets nur die Beschädigung des Bildes gemeint, das man sich von Sportlern gemacht hatte, wenn man glaubte und forderte, sie sollten über reine Körper verfügen. Konkret kommentierte 1998: »In einer Gesellschaft, in welcher der kleine Angestellte, der den Chef um hundert Mark Gehaltserhöhung bitten will, sich Mut antrinkt, der Abteilungsleiter Nikotin und der Regisseur Koks einzieht, der Flugreisende Valium einschmeißt, der Abiturient Captagon schluckt, der Anwalt Aspirin kaut, der Durchschnittsmensch (BRD) 1 250 Pillen im Jahr schluckt, in der ohne Drogen keine Skatrunde, kein Geschäftsabschluss und kein Geschlechtsverkehr zustande käme, musste ein Zeichen gesetzt werden.«

Es wurde von der kommunistischen Sportministerin gesetzt, und es bewirkte nicht, was es bewirkten sollte: das Ende des Spitzensports. Gewonnen hat 1999 mit Lance Armstrong einer, der seinen Hodenkrebs, soviel gestehen ihm selbst die eifrigsten Bekämpfer des Dopings unter Sportlern zu, nur mittels Medikamenten erfolgreich bekämpfen konnte und dem, auch das gehört zum Zugeständnis, die Überwindung seiner Krankheit gegönnt sei. Armstrong hat im Jahr 2000 wieder gewonnen und 2001, am vergangenen Wochende in Paris auf den Champs-Élysées, auch. Die Tour de France ist also nicht tot, vive le Lance.