Jagd auf Prostituierte

Lynchmob in Aktion

Nach einer aufstachelnden Predigt in der Moschee der algerischen Wüstenstadt Hassi Messaoud gingen 300 Männer auf Frauen los, die als Prostitutierte denunziert worden waren.

Die Revolte der Jugend und der berbersprachigen Bewohner in Algerien geht weiter, allerdings auf niedrigerem Niveau. Nachdem Straßenkontrollen zwischen der berbersprachigen Region Kabylei und der Hauptstadt sowie ein massives Polizeiaufgebot in Algier am 5. Juli eine erneute größere Demonstration dort verhindert haben, flackern vor allem im Osten des Landes immer wieder Riots auf, so letzte Woche rund um die Küstenstadt Annaba. In der kabylischen Metropole Bejaïa demonstrierten am Mittwoch und Donnerstag vergangener Woche jeweils mehrere tausend Menschen in voneinander unabhängigen Märschen. Diese Situation ist der Ausdruck der nunmehr erfolgten Spaltung der Koordinationen-Bewegung - einer Form der Gegenmacht von unten - in eine eher traditionalistisch-berberisch orientierte und eine eindeutig linke »Plattform«.

Indessen hat sich im Laufe der letzten Wochen abgezeichnet, wie sich die extreme Frustration und der Hass im Land entladen könnten, falls der Weg zu einer artikulierten politisch-sozialen Ausdrucksform versperrt bleibt. Die pogromähnlichen Ereignisse in der Sahara-Stadt Hassi Messaoud und einige Tage später in Tébessa nahe der tunesischen Grenze sind ein warnendes Beispiel.

In der Nacht vom 14. zum 15. Juli überfiel ein Lynchmob aus rund 300 Männern im Alter zwischen 15 und 30 Jahren die Elendsbehausungen alleinstehender Frauen in Hassi Messaoud, 1 000 Kilometer südlich von Algier. Die Frauen wurden von Anwohnern pauschal der »Prostitution« bezichtigt - eine Denunziation, die sich als falsch erwiesen hat. 17 Frauen wurden von den Angreifern zum Teil schwer verletzt, einem der Opfer beispielsweise wurde durch Schnitte beinahe eine Brust abgetrennt. Andere wurden mit Knüppeln geschlagen und trugen Knochenbrüche davon. Eine Frau wäre um ein Haar lebendig begraben worden, wären ihr nicht gerade noch rechtzeitig eingreifende Polizisten zu Hilfe gekommen. Mindestens drei der Angegriffenen wurden von einer Meute von Männern vergewaltigt, eine Frau von 60 Männern.

»Die Inquisition kehrt zurück«, so der Titel der algerischen Tageszeitung Liberté zwei Tage nach dem Überfall. Das Blatt zieht eine Parallele zwischen »Ouargla 1989 und Hassi Messaoud 2001«. In Ouargla, ebenfalls eine Wüstensiedlung im algerischen »großen Süden«, war am 22. Juni 1989 das erste Opfer der Attacken islamistischer Tugendwächter-Milizen zu verzeichnen. Eine Frau, die ebenfalls der Prostitution bezichtigt wurde, erlitt damals schwere Verbrennungen, nachdem ihre Behausung angesteckt worden war; ihr vierjähriges Kind starb in den Flammen. In den folgenden Monaten und Jahren setzten islamistische Sittenwächter-Gruppen und selbsternannte Hilfspolizei-Einheiten vielerorts ihre vermeintlichen Tugendgebote durch. Ihr Agieren begleitete den Aufstieg des Fis, der Islamischen Rettungsfront, der zur Jahreswende 1988/89 als strukturierte Kraft aufzutreten begann, nachdem als Folge der Jugendrevolte vom Oktober 1988, deren Unterdrückung mindestens 500 Tote gefordert hatte, das Mehrparteiensystem eingeführt worden war.

In den Jahren 1990 und 1991 erreichte das Treiben des Fis einen Höhepunkt, mancherorts wurde unverschleierten Frauen Säure ins Gesicht gespritzt. Das Agieren dieser Extremisten war einer der Gründe dafür, dass der Fis bereits zwischen den Rathauswahlen im Juni 1990 und den Parlamentswahlen zum Jahreswechsel 1991/92 den Rückhalt einer breiten Basis verlor. Jene hatte er noch haushoch gewonnen, bei diesen wurde er die stärkste Partei und hätte wegen des Mehrheitswahlrechts allein regieren können. Das Regime sagte daher den zweiten Wahlgang ab und verbot die Partei. Angesichts einer Wahlenthaltung von fast 50 Prozent waren die Islamisten nur von einer Minderheit gewählt worden. Drei Millionen von 13 Millionen Wahlberechtigten stimmten damals für die Partei, ein Teil von ihnen ideologisch kaum gebundene Wähler, denen der Fis als radikale Alternative zur regierenden Mafia aus Nomenklatura und Militärs erschien.

Im Unterschied zu dieser Zeit ist jedoch nicht eindeutig feststellbar, ob es sich bei den Tätern von Hassi Messaoud um Islamisten handelt. Im damaligen Kontext nämlich hätten die organisierten »Tugendwächter« eine in ihren eigenen Augen »unmoralische« Tat wie eine Vergewaltigung nie begangen. Zwar begingen auch die organisierten Islamisten mitunter barbarische Akte, wenn es darum ging, ihr »Tugendgesetz« durchzusetzen. Doch war eine der Grundlagen, auf denen ihr zeitweiliger Erfolg beruhte, ihr Auftreten als Kraft, welche die Gesellschaft vor dem Hintergrund einer kollabierenden Dritte-Welt-Ökonomie mit autoritären Mitteln zur Moral führt. Anderes galt freilich später für die bewaffneten Terrorgruppen.

Wahrscheinlich handelt es sich bei den Vorkommnissen von Hassi Messaoud um einen relativ »spontanen« Ausbruch von Wut, Frauenhass und Frustration, der eher an eine Art Pogrom erinnert. Die Ölarbeiterstadt Hassi Messaoud ist eine in jüngerer Zeit errichtete Großstadt. Viele der dort Arbeitenden halten sich auch nur wochenweise dort auf. In diesen Wochen arbeiten sie, während sie die anschließenden Wochen zum Ausruhen in ihrer Herkunftsregion verbringen. Auch die Opfer der jüngsten Angriffe waren um der Arbeit willen überwiegend aus dem Westen Algeriens in die Stadt zugewandert; sie verdienten meist als Putzfrauen in den Betrieben ihren kargen Lebensunterhalt. In den meisten anderen algerischen Städten wäre eine solche Tat, vor allem in diesem Ausmaß, bisher noch undenkbar.

Dennoch wirft die Rolle organisierter Akteure, wie des Staatsapparats und der Islamisten, Fragen auf. Allem Anschein nach wurde der Mob durch eine scharfe Predigt in der örtlichen Moschee - »gegen den Verfall von Sitte und Moral in der algerischen Gesellschaft« - zu seiner Tat aufgestachelt. Jedenfalls zogen algerische Tageszeitungen eine Verbindung zwischen beiden Ereignissen. In diesem Fall müsste man sich die derzeit nicht zu beantwortende Frage nach einem möglichen Hintergrund stellen: Einerseits haben junge Islamisten seit den frühen neunziger Jahren in den meisten Städten die bisherigen, eher gemächlichen und unpolitischen Imame aus den Moscheen verdrängt und diese politisiert. Zum anderen hat der Staat die Oberhoheit über die Moscheen und versucht seit spätestens 1996/97 über die Besetzung der Vorbeterposten zu wachen, wobei die Religionsbehörde allerdings von den legalen Islamisten der Partei Hamas/MSP verwaltet wird, die zahlreiche ehemalige Fis-Mitglieder recycelt hat.

Auf jeden Fall fanden die Ereignisse in einem gesellschaftlichen Kontext statt, in dem der Druck der Islamisten wieder zunimmt. Zum einen konnten sie am 8. Juli in der Salle Atlas in der algerischen Hauptstadt eine Großveranstaltung unter dem Namen der Liga des Appells an die Nation abhalten. An dieser nahmen neben den legalen islamistischen Parteien Hamas / MSP und En-Nahda auch wichtige Führungsmitglieder des Fis wie Bouhkamkham und Ali Djeddi teil.

Für einen Teil der privaten Presse kam das einem Skandal gleich. Ihre plausible These lautet, dass Regime wie Islamisten sich durch die jüngste, von der Kabylei ausgehende Massenrevolte, die keinerlei religiöse Prägung aufweist, bedroht sehen. Daher setze das Regime darauf, den Islamisten wieder zu einer gewissen Bedeutung zu verhelfen, um die gesellschaftliche Auseinandersetzung erneut auf die streng bipolare Alternative »Regime oder Islamisten« zu reduzieren.

Zudem häufen sich in den letzten Wochen Ereignisse wie jene von Hassi Messaoud, allerdings auf einem weit geringeren Gewaltniveau. Am Tag, an dem die Attacke stattfand, etwa bedrohten in der Nähe von Bordj Bou-Arrédidj östlich von Algier »Tugendwächter« den Inhaber eines Nachtclubs und Alkoholausschanks, der daraufhin zur Waffe griff. Und die ganze letzte Woche über kam es zu Gewalttaten in einem Armenviertel der ostalgerischen Grenzstadt Tébessa, in dem sich wegen der Misere die Prostitution ausgebreitet hat. Wiederholt wurden Behausungen vermeintlicher Prostituierter angezündet. Die meisten der Bewohnerinnen konnten sich zum Glück zuvor in Sicherheit bringen.