Ramón Fernandez Duran

»Die Gegensätze werden eskalieren«

Eigentlich wollten die EU-Staats- und Regierungschefs auf ihrem Gipfel in Nizza die Ost-Erweiterung der Union festklopfen. Doch der Streit um die Stimmverteilung zeigte, dass die EU weit davon entfernt ist, ihre Entscheidungsfähigkeit auch nach der Aufnahme zwölf neuer Mitglieder in Osteuropa zu sichern. Bis 2004 sollen nun die Kompetenzen innerhalb der Union geklärt werden. Der Spanier Ramón Fernandez Duran ist Autor mehrerer Bücher über die EU.

Der Gipfel in Nizza stand immer wieder kurz vor dem Scheitern. Auch die Dauerschwäche des Euro macht deutlich, dass die EU in einer existenziellen Krise steckt. Wurden die Verträge von Amsterdam und Maastricht vielleicht einfach falsch konzipiert?

Das größte Handicap der Europäischen Union besteht darin, dass sie über keine einheitliche Stimme verfügt. Das wirkt sich natürlich auch auf den Euro aus. Die EU besteht aus acht Republiken und sieben Monarchien. Da ist es unmöglich, eine konstitutionelle Struktur zu schaffen, in der die politische Macht so konzentriert wäre, dass sich dringende Entscheidungen schnell durchsetzen ließen. Die EU-Regierungschefs haben zwar in Nizza die Notwendigkeit einer solchen institutionellen Struktur zur Stärkung der Europäischen Zentralbank unterstrichen. Doch nach Ansicht der neoliberalen Wirtschaftsexperten der Union mischen neben der EZB noch zu viele andere Institutionen mit, die über die politische Linie des Euro bestimmen wollen.

Aber um mit den USA oder Japan konkurrieren zu können, sind die EU-Staaten doch dringend darauf angewiesen zu kooperieren.

Zweifellos können sie sich keinen Einheitsmarkt leisten, der zerstückelt ist. Zugleich muss man aber sehen, dass es zwar einen gemeinsamen EU-Markt gibt, jedoch nur zwölf Mitgliedsländer, die am Euro beteiligt sind. Diese Gegensätze werden eskalieren. Für den Euro stellt diese Situation alles andere als ein positives Szenario dar.

Woran liegt das?

Man braucht nur den EU-Haushalt mit dem der USA zu vergleichen. Während er in Europa lediglich 1,7 Prozent des Bruttoinlandsproduktes umfasst, sind es in den USA fast 25 Prozent. Darüber hinaus verfügt die US-Regierung über ein großes Potenzial an konjunkturellen Töpfen, mit denen sie weltweit in Finanzkrisen eingreifen kann. Die EU nicht: Hier sind es größtenteils Struktur- und Kohäsionsfonds, die den Haushalt bilden. Wenn der Euro erst einmal startet, wird das ein Grund mehr sein, der Währung zu misstrauen.

Einigen Ländern soll deshalb die Möglichkeit einer verstärkten Zusammenarbeit angeboten werden.

Diese Idee geht davon aus, dass der Euro das einzige identitätsstiftende Moment der Union sei. Die politische Union wird darüber völlig vergessen. So schwindet mit dem Vertrauen in den Euro zugleich das Vertrauen in die EU und ihre Institutionen. Der Euro ist noch nicht einmal im Umlauf, schon steckt er in der Krise, und weder die politische noch die militärische Struktur ist so ausgebaut, dass die EU den USA und Japan auf Dauer ein harter Konkurrent sein könnte.

Um das zu ändern, gibt es unterschiedliche Vorschläge. Welcher hat die größte Chance, sich durchzusetzen?

Das Modell des deutschen Außenministers Fischer, der ein Kerneuropa mit gewähltem Präsidenten sowie autonome juristische und politische Institutionen will, stieß bei Frankreichs Präsident Chirac auf klare Ablehnung. Fischer fordert eine föderale Union, die eine Schwächung der nationalstaatlichen Macht in ihrer heutigen Form mit sich bringen würde. Chirac hingegen plant eine europäische Konföderation, wobei die einzelnen Staaten weiterhin die wichtigste Rolle spielen - und nicht die Vereinigten Staaten Europas. Großbritanniens Premier Blair und der spanische Ministerpräsident Aznar wiederum wollen eine EU, die sich in erster Linie über den gemeinsamen Markt konstituiert. Sie gehen davon aus, dass eine gemeinsame Politik des freien Marktes automatisch garantiert, dass die politische Funktion der Nationalstaaten nicht gestört werde.

Den vierten Vorschlag hat der frühere EU-Kommissionspräsident Delors lanciert, der meiner Meinung nach die meisten Chancen hat, sich innerhalb der Union durchzusetzen. Neben der verstärkten Kooperation zwischen einzelnen Ländern schwebt Delors die Bildung eines harten Staatenkerns vor. Nur dort sollen die institutionellen Reformen stattfinden - nirgendwo anders, also auch nicht in Osteuropa. Für ihn besteht dieser Kern aus den Euro-Ländern.

Kompatibel erscheinen die unterschiedlichen Reformkonzepte trotzdem nicht.

Nehmen wir wieder den Vergleich mit den USA. Dort gibt es sehr eindeutige Strukturen. Die USA sind seit langer Zeit territorial gefestigt, trotz ihrer riesigen Einflusszonen streben sie keine staatliche Erweiterung an. In Europa haben wir es mit einem Prozess des Zusammenschlusses großer, potenter und kleinerer Staaten ohne großen Einfluß zu tun. Stoßen mehr kleine Staaten zur EU, verlieren die großen Länder nach dem derzeitigen Modell an Stimmen und damit natürlich auch an Einfluss. Das erklärt, weshalb das Geschrei um die Stimmverteilung im Zuge der Osterweiterung so groß ist.

Die osteuropäischen Staaten wollen, dürfen aber nicht mitregieren. Werden sie sich das auf Dauer gefallen lassen?

Bei der EU-Ost-Erweiterung spielen mehrere Aspekte eine Rolle, dominiert aber wird sie von wirtschaftlich-militärischen Fragen. Der Raum zwischen Russland und Deutschland ist schon seit langer Zeit die Traumregion Westeuropas, locken hier doch billige Arbeitsplätze, Rohstoffe und vor allem ein riesiger Absatzmarkt. Die Frage war jedoch immer, wie dieses Gebiet in die europäische Wirtschafts- und Währungsunion integriert werden kann, ohne die beteiligten Länder an der Gestaltung teilhaben zu lassen. Nur deshalb kam die Idee des Europa der verschiedenen Geschwindigkeiten auf, das einen prosperierenden Kern vorsieht und die Peripherie als politische Müllkippe. Wenn Chirac ein Europa mit klar gezogenen Grenzlinien fordert, tut er das, weil er weiß, dass sonst etwas aus den Fugen gerät. Wenn die osteuropäischen Staaten erkennen, dass ihnen so die politische Teilhabe verwehrt wird, dürfte sich dort nicht nur die Euro-Skepsis verstärken. Es wird zu sozialen Konflikten mit katastrophalen Folgen kommen.

Welche Bedeutung hat der Gipfel von Nizza in diesem Prozess?

Die EU-Vertreter behaupten, dass alle in Nizza getroffenen Entscheidungen unabdingbar für die Ost-Erweiterung seien. Andererseits sagen sie, dass 2003 erneut ein EU-Gipfel zur Vorbereitung der Ost-Erweiterung notwendig sei, weil die Entscheidungen von Nizza nicht ausreichten. Wenn die EU-Kommission ihren in Nizza präsentierten Entwurf durchbringt, wird der Wunsch des Kommissionspräsidenten Prodi Wirklichkeit, die Macht der Regierungen zu bremsen. In Nizza findet meiner Meinung nach der entscheidende Schritt statt, um den harten Kern der EU zu formen und das Europa der verschiedenen Geschwindigkeiten festzuschreiben. Für die geplante Erweiterung reicht das trotzdem nicht aus, weil die institutionellen Reformen bis 2004 einfach nicht abgeschlossen werden können.

Was bedeutet das politisch?

Es zeigt sich, dass die EU in den vergangenen zehn Jahren, die von der Idee einer Art von Superstaat geprägt waren, unzählige Konflikte vor sich hergeschoben hat. Und dort, wo die Ökonomie die Politik beherrscht, stellt sich irgendwann immer heraus, dass Krisen unbeherrschbar sind. Es könnte sogar passieren, dass das gesamte Projekt zu bröckeln beginnt. Eine gute Aussicht ist das nicht. Denn die Antwort könnten sehr gut rassistische Massenerhebungen sein, wie wir sie in Spanien in El Ejido bereits erlebt haben.