Gummitwist

Wackelpudding in Kniehöhe

Unbekannte Sportarten V: Gummi-Twist. Das Spiel, für das Jungs einfach zu blöd sind, hat sich bis heute erhalten.

Wer auch immer einst das Gerücht aufbrachte, spielende Mädchen seien grundsätzlich viel ruhiger als Jungs, hat nie in einem Haus gewohnt, vor dem acht- bis zwölfjährige Girlie-Gangs Gummitwist tanzten. Mit einem harmlosen »Du bist ab!« fingen die typische Gummitwist-Streiterei in aller Regel an, es folgten lautstarke Parteinahme, gegenseitiges Anschreien, Haareziehen und Schubsen, bis das Spiel für diesen Nachmittag abgebrochen wurde oder man sich doch darauf einigte weiterzumachen.

Meist setzte sich diejenige durch, der das zusammengeknotete Gummiband gehörte. Denn es war gar nicht so leicht, eine Mutter zu finden, die ohne Zicken mindestens zwei Meter Spielmaterial herausrückte. Nur wenige hielten beschäftigte Mädchen für wichtiger als nicht-rutschende Unterhosen, sodass es in fast jeder Straße ein Kind mit Gummitwist-Monopol gab. Und das deswegen immer mitmachen durfte, egal wie doof es sonst sein mochte.

Zum Streit kam es eigentlich jedes Mal, denn das Spiel, für das mindestens drei Mitspielerinnen gebraucht werden, hat keine festen Regeln. Nur die verschiedenen Stufen sind festgelegt: In Stufe eins befindet sich das Gummi in Knöchelhohe, in Stufe zwei, die meist ausgelassen wird, reicht es bis zur Wade, in Stufe drei zur Kniekehle und bei der vierten bis unter den Po. Die schwierigste Stufe ist die fünfte, sie reicht bis zur Hüfte. Erschwerend kommen noch die Positionen »Badewanne« (das Gummi wird weit gespreizt), »Wackelpudding« (die Spielerinnen bewegen sich mehr oder weniger rhythmisch hin und her) und »eng« (Knöchelbreite) hinzu.

Wie Gumitwist nun tatsächlich gespielt wird, hängt von den Vereinbarungen ab. Entweder darf eine der Mitspielerinnen sich eine Abfolge ausdenken, die dann alle nachmachen müssen oder jede entwirft eine eigene Kür, die bis in die fünfte Stufe nicht verändert werden darf. Freestyle-Hopsen ist dagegen oft verboten, weil dabei Fehler meist als gewollt deklariert werden und es dann ewig dauert, bis die Nächste drankommt.

Die Figuren sind beliebig zu kombinieren. Im Hinblick auf die höheren Stufen ist das einfache Einspringen oder der Sprung mit nur einem Fuß auf das Gummi meist die beliebteste Eröffnung, denn später mit beiden Füßen zu landen ist gar nicht so einfach. Weitere Grundsprünge sind »Mitte« (aus einer beliebigen Stellung mit geschlossenen Beinen zwischen beide Gummizüge springen), »Grätsche« (aus einer beliebigen Stellung mit weit gegrätschten Beinen innerhalb oder außerhalb der beiden Gummizüge zum Stehen kommen) und »Raus« (aus einer beliebigen Stellung mit geschlossenen Beinen rechts oder links neben beide Gummizüge springen. Dieser Sprung bildet stets den Abschluß einer Figur).

Der Durchgang endet, wenn die Springerin einen Fehler macht, also entweder auf dem falschen Gummi landet, hängen bleibt (weswegen Schuhe mit Schnallen oder Troddeln zum Gummitwist-Horror gehören) oder einen Übungsteil einfach vergisst. Jungs durften übrigens nur dann mitmachen, wenn weit und breit weder Straßenschilder noch Mülltonnen noch Gartenstühle zu finden waren, denn es ist kein Fall bekannt, dass sich einer auch nur halbwegs akzeptabel beim Gummitwist angestellt hat.

Zur Geschichte des außerhalb Europas weitgehend unbekannten Mädchenspiels gibt es kaum Aufzeichnungen, klar ist nur, dass es bereits in den zwanziger Jahren des vorigen Jahrhunderts als Schulhof-Game sehr beliebt war - obwohl es in vielen Schulordnungen bis in die sechziger Jahre wohl auch deswegen verboten war, weil immer wieder kurzsichtige Jungs ins Stolpern kamen.

Zudem gibt es Gummi ja auch noch nicht so lange: Erst im Jahr 1745 hatte der französische Forschungsreisende Charles Marie de la Condamine nach zehnjährigem Aufenthalt in Äquatorial-Amerika eine braune, klebrige Masse mitgebracht. Dort gewannen die Tupi aus angeritzten Bäumen eine milchige Flüssigkeit, die sie anschließend kochten. Das »Caa-o-chu« ließ sich zu Springbällen formen oder zur Abdichtung von Kanus verwenden, in Europa jedoch konnte lange Zeit niemand etwas mit dem, was später Kautschuk heißen sollte, anfangen.

Erst 45 Jahre später entdeckte der Mechaniker Edward Nairne zufällig, dass man mit dem Material viel besser als mit den bis dato gebräuchlichen Brotstücken Bleistiftskizzen wieder ausradieren konnte. Nairne schlug aus dieser Entdeckung sofort Kapital, er begann, Kautschukstückchen unter dem Namen »Rubber« (dt.: Reiber) zu verkaufen, damit hatte Gummi im Englischen einen eigenen Namen erhalten. Bloß die den Tupis bereits lange bekannten typischen Eigenschaften des elastischen Materials hatte immer noch niemand entdeckt - erst 1845 erfand der Schotte Robert William Thomson den ersten luftgefüllten Reifen.

Eindeutig zu früh, denn damals gab es nicht einmal Fahrräder, erst der Ire John Boyd Dunlop konnte an seinem Patent aus dem Jahr 1888 verdienen. 1868 wurde die deutsche Firma Gold-Zack AG als Produzent von Kurzwaren aller Art gegründet - ein für das Gummitwist bedeutendes Ereignis. Zum Gummitwist taugte nämlich nicht jedes von einer weißen Baumwollhüle umgebene Gummiband. Sonderangebote wurden in aller Regel schnell als Billigware enttarnt, denn sie hielten nur wenige Durchgänge aus, bevor sie sich in ihre Einzelteile auflösten.

Die Firma Gold-Zack existiert auch heute noch. Viel weiter als sie kann man jedoch nicht davon entfernt sein, elastische, auf einem schwarz-golden bemalten Karton aufgewickelte Gummbänder herzustellen. Ende 1995 wurden die im Textilbereich aktiven Geschäftsfelder der Gold-Zack AG verkauft, denn der Marke Gold-Zack wurden wegen der hohen Markenbekanntheit von 43 Prozent und der hohen Endverbraucherakzeptanz sehr gute Chancen eingeräumt, sich auch in anderen Produktbereichen zu etablieren. Seither ist die Firma nur noch als Finanzdienstleister aktiv.

Gold-Zack-Gummibänder gibt es trotzdem noch: Der Kurzwarenbereich wurde vom Stolberger Konzern Prym Consumer GmbH & Co. KG übernommen. »Für die Nutzung der Markenrechte von Gold-Zack wurde ein Lizenzabkommen mit Prym getroffen. Mit der Verbindung zum Marktführer Prym ist die Voraussetzung geschaffen, dass die Marke ðGold-ZackÐ weiterhin in ihrem angestammten Kompetenzfeld aktiv ist und dort professionell vermarktet wird«, teilt Gold-Zack dazu mit.

Die Zukunft des Gummitwists scheint dort nur auf den ersten Blick in guten Händen zu sein: Prym mit seinen weltweit 4 500 Mitarbeitern setzte im letzten Jahr zwar rund eine Milliarde Mark um, mit einem Exportanteil von rund 40 Prozent. Aber wohl nur wenige Meter werden auch tatsächlich noch zum Spielen gebraucht. Denn mittlerweile gibt es spezielle Gummitwist-Gummis, mit Plüschtierchen verziert, die in Spielwarenläden angeboten werden. Aber auch damit hat es mit Sicherheit noch kein einziger Junge in die fünfte Stufe geschafft.