Mit Hand und Fuß

Mit dem Klischee vom aggressiven Schlägertum hat Taekwondo kaum etwas gemein. Beobachtungen bei den Berliner Meisterschaften.

Von großen, gemeinen und gemeingefährlichen Kanten ist anlässlich der Berliner Meisterschaften im Taekwondo in der Spandauer Sporthalle weit und breit nichts zu sehen. Keiner hat den »Mir kann keener»-Blick drauf, niemand rempelt sich durchs Gewühle, stattdessen herrscht Familienfest-Atmosphäre. Der Nachwuchs tobt durch die Gänge, während die Eltern miteinander fachsimpeln; an der Wand hängen die Ergebnisse des Malwettbewerbs für die Junioren des Verbandes.

Nur ein einziges Mal wird geschimpft. Ein Schiedsrichter ist nämlich auf eine auch beim Taekwondo verpönte Schwalbe hereingefallen. In dieser Sportart sind Tritte gegen den Rücken verboten, aber solange das nicht absichtlich passiert, hat es auch keine Folgen für den Angreifer. Einer der Kämpfenden hatte jedoch bei einem Angriff seinem Gegner derart schnell den Rücken zugedreht, dass dessen Fuß auf seiner Kehrseite landete. Der Schiedsrichter ging von Mutwillen aus und ahndete den Tritt mit Punktabzug. »So was kann halt vorkommen, auch bei uns sind die Richter nur Menschen«, erklärt Göktürk Barutcu vom Spandauer Verein Satori.

Den Stolz auf die gelungene Veranstaltung konnte das nicht trüben, noch stolzer ist man beim Berliner Verband jedoch darauf, dass die Münchener geschlagen wurden. Die hatten sich ebenfalls um die Ausrichtung der Internationalen Deutschen Meisterschaften beworben, stattfinden wird das Großereignis aber vom 28. bis zum 30. April in Berlin. Für die Berliner Starter ein Grund mehr, sich anzustrengen, denn die hiesigen Finalteilnehmer sind automatisch bei der Deutschen Meisterschaft dabei.

Auch Michael Müller und Waldemar Ehof hoffen auf das Finale. Die beiden Aussiedler aus Kasachstan trainieren beim Charlottenburger Verein ASV. Dies ist ihr erster großer Wettkampf in einer Sportart, die aus Korea kommt, und deren Bezeichnung Taekwondo eigentlich nur ein Oberbegriff ist für die neun verschiedenen dort beheimateten Schulen, von denen jede ihren eigenen Stil hat.

Moa Duk Kwan heißt die Richtung, die beim Turnierausrichter Satori gelehrt wird, aber solche Einzelheiten findet der Vereinsvorsitzende, Felix O. Priautama, nicht weiter wichtig. »Man kann das vielleicht mit dem Autofahren vergleichen, der eine schwört auf VW, der andere auf Toyota, aber keiner würde sagen, dass es sich bei der Lieblingsmarke des anderen nicht um ein Auto handele.«

Mit wilden Schlägereien habe das Taekwondo nichts zu tun, es gehe viel mehr um Respekt, gegenseitige Achtung und Disziplin, erklärt Jang Du-Hwan, ein Großmeister der Sportart. »Füße und Hände sind Waffen, so gesehen sind also alle hier Waffenträger. Da ist eine gute Erziehung natürlich sehr wichtig.« Nach dem Ende des Kampfes bleiben gegenseitige Anfeindungen daher auch meist aus. Anders als beim Boxen sind die Kämpfer jederzeit über ihre Wertung informiert, sie können schon während des Wettkampfes mit einem kurzen Blick auf die Punktetafeln sofort abschätzen, ob sie gewonnen haben.

Michael hat sich nach seinem Viertelfinale am Fuß verletzt, er blutet stark, und sofort sind die Sanitäter da. Eigentlich gebe es bei dieser Veranstaltung sehr wenig Verletzungen, sagt einer, »beim Handball passiert eindeutig mehr«. Das hilft Michael jetzt aber auch nicht weiter, die Risswunde blutet, tut weh und zu allem Überfluss packt der Mann von der Johanniter-Unfallhilfe jetzt auch noch die Jod-Flasche aus. Michael, der sich gerade mit einem ziemlich harten Fight ins Halbfinale gekämpft hat, kann das gar nicht leiden. Misstrauisch starrt der Sportler Mann und Flasche an, erst sein Vater und der Trainer können ihn davon überzeugen, dass die Behandlung wirklich notwendig ist. Na gut, aber wenn schon Behandlung, dann wenigstens unter Ausschluss der Öffentlichkeit - Michael lässt sich in die Umkleidekabine bringen.

Zurück bleiben seine Vereinskollegen, die aber finden, dass das alles halb so schlimm sei. Man könne halt immer mal ausrutschen, der Gegner habe keine Schuld gehabt - nur jetzt, so kurz vor dem nächsten Kampf sei das natürlich eine dumme Sache. Waldemar aber kommt kurz darauf mit der Nachricht zurück, dass Michaels Halbfinal-Start nichts im Wege stehe, und alle entspannen sich spürbar. Bis auf Waldemar. Der ist bald mit seinem Kampf dran und muss sich jetzt vorbereiten.

Der 19jährige hat in der Bundesrepublik Glück gehabt, findet er. Seit vier Jahren ist er hier, und eine Lehrstelle hat er auch schon. Gerade geht er in die Berufsschule für Kfz-Mechaniker, und eigentlich könnte er rundum zufrieden sein, wäre da nicht die Freundin. Mit der ist er schon »sehr lange« zusammen, aber sie lebt in Russland und er in Berlin. »Sie hat dort einen sehr guten Beruf, den möchte sie nicht einfach aufgeben«, sagt er, »sie kann nicht so gut Deutsch«, und ob sie hier etwas Gleichwertiges finden würde, sei ja auch ziemlich zweifelhaft. Zu Silvester hat er sie zuletzt gesehen und ihr bei der Gelegenheit einen Heiratsantrag gemacht.

Michaels Freundin hat vor einem Jahr auch mit Taekwondo angefangen. Sie fühle sich dadurch allgemein sicherer, sagt sie, eine Einschätzung, die viele der hier anwesenden Sportler teilen: »Vor allem Frauen haben oft eine regelrechte Schlaghemmung. Selbst wenn sie in gefährliche Situationen geraten, sind sie, durch ihre Erziehung etc., regelrecht hilflos. Dies kann man sogar bei sich selbst testen: Man stelle sich nur vor, jemandem mit voller Wucht einen gefährlichen Gegenstand, etwa eine Flasche, auf den Kopf zu schlagen. Viele Menschen können das selbst in ihrer Phantasie nicht, diese Angst, einen anderen zu berühren, wird durch das Taekwondo ganz sicher abgebaut. Aber ohne dass man deswegen zu einer gemeingefährlichen Kampfmaschine wird«, sagt der 20jährige Mahmoud, der seit zwei Jahren den Kampfsport trainiert.

Dann beginnen die Halbfinals. Ja, er sei jetzt sehr aufgeregt, sagt Trainer Gültekin Özcifi, der am Mattenrand stehend die Kämpfe seiner Schützlinge verfolgt. Hin und wieder tritt auch er dabei in die Luft oder dreht sich, »das macht man halt so unwillkürlich«. Das Coachen ist sein Hobby, eins, das ihm »Riesenspaß macht. Manchmal, wenn ich nachts davon träume, wie ich meinen Schülern z.B. einen Tritt beibringe, dann werde ich von meiner eigenen Bewegung aufgeweckt!«

Auch bei Waldemars Kampf ist Özcifi engagiert dabei. Immer wieder gibt er ihm lautstark Tipps, und dann ist sein Schützling tatsächlich im Finale. Schon in Kasachstan hat Waldemar Kampfsport betrieben, jetzt hofft er auf eine gute Platzierung bei der Deutschen Meisterschaft. Ihm macht sein Sport Spaß, auch wenn es viele Vorurteile gegen das Taekwondo gibt. »In meinem Lebenslauf durfte ich es damals nicht als mein Hobby angeben, weil das vielleicht meine Chancen auf eine Lehrstelle verschlechtern würde. Aber schauen Sie sich doch mal um - hier findet man doch keine aggressiven Schläger.«