Jäger des verlorenen Schatzes

Gefährliche Orte alternativer Lebensformen XLIII bis XLV: Berliner Flohmärkte

Der rettende Einfall an einem dieser zähen und nicht enden wollenden Sonntagnachmittage lautet in der Regel: "Laß uns doch mal zum Flohmarkt gehen!" Er beinhaltet gleich drei Vorteile auf einmal, man kommt an die frische Luft, kann trotz geschlossener Geschäfte vielleicht viele schöne Sachen günstig einkaufen und außerdem noch nach Herzenslust gucken und kramen, ohne von irgendeinem dieser unauffälligen und schlecht gelaunten Kaufhausdetektive verfolgt zu werden.

In Berlin ist die Auswahl an Flohmärkten relativ groß, obwohl nach Schließung des Krempelmarktes am Potsdamer Platz, der neben Elektroschrott, Zigaretten und allerhand billigem Zeugs aus dem damaligen Ostblock auch bei jedem Wetter Waten im Matsch bot, eine empfindliche Lücke entstand. Irgendwie galten Flohmärkte Mitte der Neunziger nämlich plötzlich als Horte des Bösen, was schließlich darin gipfelte, daß neben dem Tacheles ein Markt entstand, der eingezäunt und von privaten Wachschutzfirmen beaufsichtigt wurde und auf dem es daher (angeblich) keine

Waffen und nichts zuvor Gestohlenes zu kaufen gab: Wer nicht wirklich deutsch oder sonstwie verdächtig aussah, wurde gleich am Eingang angehalten und durchsucht.

Dieser Flohmarkt existiert jedoch auch nicht mehr, und selbst die Idee des Wachschutzes hat sich nicht durchgesetzt: Kontrolliert wird der ordnungsgemäße Zustand des Verkaufsstandes wieder traditionell von den Jungs, die aussehen wie eine paramilitärische Vereinigung. "Wewerka-Flohmärkte" steht in Rot auf ihren Parkas, und meistens lümmeln sie gelangweilt herum, denn sie haben im Flohmarkt-Genre schon wirklich alles gesehen.Hin und wieder, wenn es besonders kalt ist, wird ihnen von den Verkäufern heißer Kaffee angeboten, denn irgendwie ist man eine große Familie, mit einem großen gemeinsamen Ziel: Geld verdienen, egal mit was, und das möglichst schnell.

Verpönt sind dabei nur diejenigen, die Flohmarkt light machen wollen. Die verkaufen ihren abgelegten Kram zu Schleuderpreisen und begreifen das Ganze als sozialen Event. Perfekt und meistens viel zu dünn angezogen sowie formvollendet geschminkt steht diese Subspezies, die grundsätzlich nur in weiblich und zu dritt vorkommt, hinter einem Tapetentisch, auf dem sie unmodern gewordene Kettchen, Ohrringe, Hosen, CD und Bikinis ausgebreitet hat, und will vor allem eins: Spaß haben. Dabei wird sie ab ungefähr elf Uhr von zahlreichen Freunden unterstützt, die "extra hergekommen sind, weil wir ja wußten, daß ihr heute hier steht.Hey, ist das lustig hier!"

Von den umstehenden Flohmarktveteranen ernten die Fun-Verkäufer nurVerachtung. Denn sie tun alles das, was ein richtiger Marktler niemals tun würde. Frieren beispielsweise - weil sie eben nicht so zweckmäßig dick verpackt sind wie alle anderen, die wissen, wie kalt Füße bei acht Stunden Draußensein werden können -, ständig in der Kasse nachschauen, wieviel Geld schon drin ist, Vorbeigehende mit viel Gekicher zum Stehenbleiben und Schauen animieren, und, Gipfelpunkt des social suicide, sich mit Kunden unterhalten, ohne Verkaufssgespräche zu führen. Denn die meisten Kunden, das ist hier jedem klar, sind die Pest.Vor allem die alternativen Lebensformen, die ein ganz klares Autoritätsproblem haben. Das sich leider massiv nur auf Flohmärkten äußert, denn während sie bei Hertie, Karstadt oder im Kaufhof brav das bezahlen, was auf dem Preisschild steht und der Verkäuferin zum Abschied auch noch höflich einen "Schönen Abend noch!" wünschen, bricht ausgerechnet am Sonntagnachmittag um drei das anarchische Potential durch.

Sowie solche Leute an irgendeinem Stand irgend etwas Ausgezeichnetes sehen, müssen sie unbedingt fragen: "Was kostet das?" Die Antwort: "Steht drauf" wird jedoch niemals als Antwort akzeptiert, sondern ist Startsignal für Aufmüpfigkeit: "Ich hab' aber nur fünf (zehn, fünfzehn) Mark." - "Kaufstes halt nicht." - "Ja, aber ich dachte, ich kann's vielleicht billiger kriegen?" - "Nein!" - "Warum nicht?" - "Was denkst du, weswegen da ein Preisschild drauf ist? Aus Scheiß oder womöglich vielleicht doch, weil dies exakt der Preis ist, den ich dafür haben will?" - "Mmmh. Ich dachte aber, du läßt mit dir reden ..." - "Nein." "Ja aber, warum nicht? Auf dem Flohmarkt muß Handeln doch wohl drin sein?" - "Komm, hau ab!!!" - "Bist du eine blöde Zicke!"

Dabei unterscheiden sich die Kunden von Flohmarkt zu Flohmarkt. Während am Moritzplatz beispielsweise Platten- und CD-Kisten leseunkundige Sechsjährige anziehen, die "Is da Gangsta-Rap drin?" fragen, halten die Schildchen mit "Indie", "Wave", "Tekkno" und "Krach" drauf keinen Sammler davon ab, "Haste auch Heino/Stones/Kelly Family?" zu fragen. Gegenfragen wie "Steht da irgendwo Heino/Stones/Kelly Family?" halten sie nicht davon ab, hoffnungsvoll alles durchzukramen und zu erklären: "Das Zeug hier kennt ja kein Mensch!" und nebenher noch ein bißchen aus dem eigenen Leben zu erzählen, jedenfalls dann, wenn der Wühler aus dem Osten kommt.

In den nächsten fünf Minuten erfährt man daher, wie es bei der NVA war, wie er vom ersten Westgeld Heino/Stones/ Kelly Family-Platten gekauft hat und daß ihn das nunmehr fünfte Jahr als Arbeitslosengeldbezieher nicht davon abhalten wird, eines Tages nach Bad Münstereifel zu fahren, um das dortige Café des Idols zu besuchen. Ausbleibende Antworten schrecken ihn zunächst nicht ab, erst wenn die benachbarten Profihändler anfangen, mit kleinen Witzchen ihr Beileid zum unerwünschten Besuch am Stand zu bekunden, resigniert der Kunde. "Wirklich kein Heino drin, wa?" vergewissert er sich, bevor er die Attraktionen des nächsten Tapeziertischs, hinter dem sich drei Frauen heftig amüsieren, inspiziert.

Immerhin, ein kleiner Karton enthält sieben Singles, zehn CD und ein paar Maxis und daher vielleicht auch Heino und die erneute Chance, ein bißchen was zu erzählen. Solche Kunden könnten allerdings auf den Westflohmärkten jetzt deutlich weniger werden, denn neben dem auf dem Arkonaplatz gibt es jetzt einen zweiten Krempelmarkt im Osten. Der neue Flohmarkt am Ostbahnhof wirbt bis nach Tempelhof mit Plakaten, auf denen steht: "Keine Elektrogeräte!" Das ist ein neuzeitliches Synonym, das nicht nur für "und auch keine Wasserhähne", sondern zudem für "Ausländerfreie Zone" steht. Auf dem Ostbahnhof-Flohmarkt möchte man nämlich unter sich sein.

Die Verkäufer protzen mit seltsamen Abkürzungen, die dort, wo man schon immer mit Deutscher Mark bezahlte, garantiert kein Mensch versteht, und werden dafür von ihren Kunden dankbar angesehen, nett, mal wieder unter sich zu sein. Nett auch für die Verkäufer, die niemals gedacht hätten, den vor Jahren so billig erworbenen Ostschrott nochmal loszuwerden.

So sind die Stände am Ostbahnhof regelrecht umlagert von Menschen, die nostalgisch auf Neues Deutschland-Aschenbecher sehen, nach im Osten schwer gesuchten special interest-Waren wie Heino/Stones/Kelly-Family-Platten suchen und völlig glücklich sind, so viel Vertrautes auf nur einem Tapeziertisch wiederzufinden.

Äußerst glücklich, immer mal wiederhört man Ausrufe wie "Guck dir das an! Mein altes Lieblings-Kinderbuch! Genau das, wonach ich so lange gesucht habe! Und nur für eine Mark!" - ein auf Flohmärkten absolut verbotener Ausruf, denn natürlich wird der Herr Verkäufer dem den verlorengegangenen Schatz

aus der Kindheit heftig an die Brust Drückenden sofort klarmachen, daß das zwar natürlich ein Preisschild ist, was dahinten in dem Buch klebt, aber dies von demjenigen stammt, dem er es vor vielen Jahren abgekauft hat, und er nun aber "zehn Märker, natürlich in Westgeld, haha" dafür haben will.

Der Käufer nickt einsichtig, bezahlt ungefähr neun Mark zuviel und ist glücklich, während der Verkäufer, schon seit Jahren im Gewerbe tätig und geübt darin, sich als Ossi zu verkaufen, den Kollegen von den anderen Ständen zuzwinkert: "Gott, sind die doof."