Zweite Chance fürs Alibi

Lübecker Brandanschlag: Der Prozeß gegen Safwan Eid wird wieder aufgerollt

Safwan Eids Verteidigerinnen Gabriele Heinecke und Barbara Klawitter versuchten, die Entscheidung von der positiven Seite zu betrachten: Das neue Verfahren werde Gelegenheit geben, "die teilweise unzutreffenden tatsächlichen Feststellungen des Landgerichts Lübeck zu überprüfen und abzuändern". Niemand hatte ernsthaft mit diesem Urteil des Bundesgerichtshofes (BGH) gerechnet: Die Protokolle von abgehörten Gesprächen, die Safwan Eid zwei Wochen nach seiner Festnahme im Februar 1996 mit seinen Angehörigen in der Besucherzelle des Gefängnisses führte, hätten im Lübecker Brandprozeß eingebracht werden müssen.

Die Konsequenz aus dem Urteil: Das Verfahren um den wahrscheinlich folgenschwersten Anschlag auf Asylbewerber in der Geschichte der Bundesrepublik muß neu aufgerollt werden. Und wieder sitzt mit dem Hausbewohner Eid eines der Opfer des Brandes, bei dem am 18. Januar 1996 zehn Menschen ums Leben kamen, auf der Anklagebank.

Zwar hatten Eids Verteidigerinnen in beinahe naturgemäß notwendiger Skepsis eine solche Entscheidung der Bundesrichter befürchtet, doch die Vorzeichen ließen zunächst auf ein anderes Ergebnis hoffen. Schließlich hatte sogar die gewöhnliche Scharfmacherin in politischen Verfahren, die Bundesanwaltschaft (BAW), abgewunken. Selbst wenn die Abhöraktion rechtmäßig gewesen sei, erklärte Bundesanwalt Gerhard Altvater, sei der Beweiswert dieser Protokolle so schwach, "daß ein anderes Urteil ausgeschlossen werden kann". Auch die Lübecker Staatsanwaltschaft hatte nach dem Freispruch am 30. Juni 1997 auf eine Revisionsklage verzichtet. "Selbst bei einer Zulassung der Protokolle", begründete Behördensprecher Klaus-Dieter Schultz die Entscheidung, könne das Verfahren "am Ende wieder 'im Zweifel für den Angeklagten' ausgehen".

Die veränderten Einschätzungen der Strafverfolger sprachen für sich. Schließlich wollte Schultz zu Beginn der Ermittlungen im Februar 1996 in den belauschten Gesprächen noch den "dringenden Tatverdacht" erhärtet sehen. Eids Verteidigung sowie Solidaritätsgruppen hingegen maßen ihnen nie eine strafrechtliche Bedeutung zu. Warum auch? Professionelle Dolmetscher konnten nur äußerst widersprüchliche Angaben über die vermeintlich verdächtigen Worte machen. Im angeblichen Hauptbelastungsatz - "Ich weiß, was ich (mit/in dem) Gebäude gemacht habe" - wird die Untauglichkeit besonders deutlich: Die Wörter für "Gebäude" und "Ohren" klingen im libanesischen Tripoli-Dialekt ähnlich, wie der eigens vom BKA begerufene ägytische Übersetzer bestätigte. Folgerichtig resümierte vergangene Woche auch Professor Reinhold Schlothauer, einer der beiden für den BGH-Termin von Eids Anwältinnen beauftragten Spezialisten für Revisionsverfahren: "Die Gespräche sind nicht aussagekräftig."

Doch beim 3. Senat des BGH wollte man weder der Argumentation Schlothauers noch den späten Einsichten der Strafverfolger folgen. Weil die Besucherzelle eines Gefängnisses keine Wohnung "im Sinne des Art. 13 GG" sei, betrachten die Bundesrichter den Lauschangriff als legale Maßnahme. Die Abhöraktion sei also kein unverhältnismäßiger Eingriff in die Persönlichkeitsrechte des Gefangenen gewesen, wie er vor der parlamentarischen Zustimmung zum Großen Lauschangriff im Januar 1998 noch verboten war.

Die Karlsruher Juristen griffen damit die Argumentation auf, mit der die Nebenklägervertreter im Auftrag der Familie El-Omari - den einzigen ehemaligen Bewohnern des Hauses, die nicht von der Unschuld Safwan Eids überzeugt sind - ihre Revision begründet hatten. Doch der BGH ging noch weiter. Ohnehin hätten der Angeklagte und seine Besucher gewußt, daß sie "optisch und akustisch durch einen anwesenden Beamten überwacht" worden seien. Auf ein paar Wanzen kommt es da auch nicht mehr an, so die Logik.

Vor allem aber nahmen die Karlsruher Juristen ausführlich Bezug auf die schriftliche Urteilsbegründung des Lübecker Landgerichts. Dieses habe "gewichtige, den Angeklagten belastende Umstände festgestellt" - eine Aussage, die durch den Verlauf des Brandprozesses mitnichten gerechtfertigt werden kann. Dennoch griff der BGH-Senat tief in die Kiste Lübecker Spekulationen, wie sie der Vorsitzende Richter Rolf Wilcken in dem Urteil festgeschrieben hatte: So sei "das Feuer mit Hilfe eines Brandlegungsmittels im Flur des ersten Stockwerks entzündet" worden. Und: "Der Angeklagte hat gegenüber dem Rettungssanitäter Leonhardt während der Fahrt in das Krankenhaus geäußert 'wir warn's' und eine Begründung für die Brandlegung gegeben."

Der Tenor des BGH, der sich auf Wilckens schriftliches Urteil stützt, ist eindeutig: Man konnte dem Angeklagten die Schuld lediglich nicht nachweisen, seine Tatbeteiligung steht aber quasi außer Frage. Dabei ist bis heute nicht nachvollziehbar, wie es zur wundersamen Wandlung in der Einstellung des Lübecker Richters kam, die ihn eine solche Urteilsbegründung hatte formulieren lassen. Noch am 23. April 1997, nur wenige Verhandlungstage vor dem Ende der Beweisaufnahme, konnte er nichts erkennen, was den Angeklagten belaste: "Entlastung setzt eine hinreichende Belastung von Safwan Eid voraus, die wir nach dem jetzigen Stand nicht haben." Obwohl sich an diesem Stand faktisch nichts geändert hatte, sprach er in seiner mündlichen Urteilsbegründung am 30. Juni von Entlastendem und Belastendem, von Indizien, die für eine Verurteilung nicht ausreichen würden. In der schriftlichen Begründung, die erst im November veröffentlicht wurde, erkennt er in dem Libanesen mindestens einen Mitwisser, wenn nicht gar einen Tatbeteiligten.

Auf ähnlich unerklärliche Weise wandelte sich auch eine andere Einschätzung Wilckens: Hatte er im April die Möglichkeit des gewaltsamen Eindringens von außen noch eingeräumt, so hieß es im schriftlichen Urteil, diese "Denkmöglichkeit" sei "nicht ernstlich in Betracht" zu ziehen. Will sagen: Neonazis kommen als Täter nicht mehr in Betracht.

Nun wird die Kieler Staatsanwaltschaft einen neuen Prozeß gegen den libanesischen Flüchtling anstrengen - möglicherweise unter Federführung des von Lübeck in die Landshauptstadt gezogenen Anklägers Axel Bieler, der bereits im ersten Verfahren besonders aggressiv aufgetreten war. Die Vorgaben des BGH sind kaum zu übersehen: Safwan Eid konnte trotz zahlreicher Indizien nicht verurteilt werden, mit den Abhörprotokollen bekommen die Gerichte nun eine zweite Chance, die Glaubwürdigkeit der Flüchtlinge aus der Hafenstraße zu untergraben.

Gleichzeitig können sich nun die vier tatverdächtigen Männer aus Grevesmühlen wieder beruhigt zurücklehnen. Solange der Prozeß gegen den Libanesen nicht abgeschlossen ist, kann gegen sie - selbst wenn es ein entsprechendes Interesse der Strafverfolger gäbe - keine Anklage erhoben werden. Über die zahlreichen Selbstbezichtigungen Maik W.s dürften bis dahin jedenfalls ebenso Gras gewachsen sein wie über alle anderen Ungereimtheiten in diesem Verfahren.

Dabei wirken die derzeitigen Versuche Maik W.s, sein vor zwei Wochen im Spiegel abgelegtes Geständnis zu widerrufen, wenig überzeugend. Er sei von den Journalisten "gelinkt" worden, läßt er über seinen Anwalt Martin Putzka wissen. Und Strafverfolger Schultz bestätigt nach einer neuerlichen Vernehmung: "Herr W. hat uns gegenüber erklärt, er habe mit dem Spiegel ausschließlich über die Hintergründe seines widerrufenen Geständnisses vom Februar gesprochen." Das behauptet auch Verteidiger Putzka gegenüber Jungle World. Wie daraus ein Interview geworden ist, das sich über lange Strecken hinweg unmißverständlich wie eine weitere Selbstbezichtigung des 20jährigen liest, kann Putzka auch nicht genau erklären. "W. hat vor allem auf die Antworten geachtet und nicht jedes Detail genau gelesen", reagiert er auf die Äußerungen des Spiegel- Deutschland-Ressortleiters Gunther Latsch. Der hatte vergangene Woche erklärt, W. habe das Gespräch "Seite für Seite einzeln abgezeichnet", was auch Putzka zugibt.

Trotzdem ist sich der Anwalt mit Staatsanwalt Schultz, der auch nach dem Widerruf-Geständnis-Marathon des 20jährigen keine Wende sieht, sicher: "Wenn bisher nichts gegen W. sprach, so sehe ich auch jetzt nichts objektiv Neues, was auf einen dringenden Tatverdacht hindeuten könnte."

Dagegen erhoffen sich Safwan Eids Verteidigerinnen, daß mit der Wiederaufnahme des Verfahrens gegen ihren Mandanten auch die Rolle der vier rechtsradikalen Männer wieder auf die Tagesordnung kommt. Schließlich dürfe der Umstand, daß das Verfahren gegen den Libanesen weitergeführt werde, "nicht darüber hinwegtäuschen, daß allein gegen die Grevesmühlener dringender Tatverdacht besteht".