Geier über dem Tivoli

Aachen will ein Stück Fußball-Geschichte entsorgen

"Jeder kann sich ausrechnen, was alles möglich ist, wenn wir es schaffen, eine schlagkräftige Mannschaft zusammenzustellen, die oben mitspielt." So spricht der Präsident von Alemannia Aachen heute, so sprachen Präsidenten von Alemannia Aachen schon seit 30 Jahren. Während in Städten wie Braunschweig, Saarbrücken, Darmstadt oder Wattenscheid, die mit Aachen neben der Bedeutungslosigkeit auch die mehr oder minder lang zurückliegende Erfahrung einer Zugehörigkeit zur Fußball-Bundesliga teilen, niemand dem Gedanken verfallen würde, mit dem eigenen Verein fehlte der Klasse die entscheidende Zierde, gewinnt dieser Wahn in Aachen seit dem Abstieg aus der Bundesliga im Jahr 1970 mehr und mehr Anhänger. Ihre Zahl wächst mit jedem Schritt in den sportlichen Bankrott.

Als zu Beginn der eben abgelaufenen Drittliga-Saison einige Meisterschafts- und DFB-Pokalspiele in Folge gewonnen wurden, begann der bei solchen Gelegenheiten übliche Hype: Die Sportreporter der lokalen Presse klauten den Lokalreportern jede auch nur mögliche Zeile auf den an sich für den Sport nicht reservierten Lokalseiten, um täglich Interviews mit Spielern, Reportagen über Fanclubs oder Statements von Präsidiumsmitgliedern abzudrucken. Die Idiotie der lokalpatriotischen Einheitsfront brachte ein Berichterstatter des gemeinsamen Sportteils beider Aachener Tageszeitungen ungewollt auf den Punkt, der im November - die Glanzzeit des Frühherbstes war längst vorbei - über ein Heimspiel gegen Remscheid schrieb; nachdem der Führungstreffer der Gäste geschildert war, ging es so weiter: "Schon vorher machten sich auf der Haupttribüne die Leute bemerkbar, die nicht bereit waren, die Alemannia zu unterstützen, sondern offenbar nur zur Krefelder Straße gekommen waren, um zu stänkern." Auch das traditionell eher dem Alternativ-Milieu zugewandte örtliche Stadtmagazin brachte mit Blick auf die studentischen Fans eine liebevoll recherchierte Titelgeschichte und attestierte dem Club alle Aussichten auf eine rosige Zukunft.

Die Saison endete dann wie immer: Nach einem trostlosen 1:1 gegen Paderborn Platz sieben in der Schlußtabelle. Obwohl der Förderkreis "Alemannia 2000" bereits im Herbst 1 288,95 Mark gesammelt hatte und trotz überdurchschnittlicher Zuschauerzahlen waren Schulden in Höhe von drei Millionen Mark aufgelaufen. In der Hauptversammlung Ende März zog das Präsidium eine vorläufige Bilanz: "Der größte Erfolg unserer Amtszeit ist, daß der Verein noch existiert."

Im Zuge des provinziellen Einerleis aber bahnt sich nun womöglich ein Verbrechen an einem Monument der Fußballgeschichte an: Der Tivoli, das stadteigene Stadion, soll vielleicht zugunsten schnöder Wohnhäuser abgerissen und durch eine an anderer Stelle zu errichtende "Aachen-Arena" ersetzt werden. Daß für letztere ein Zuschauervolumen von 11 000 berechnet wird, zeugt vom Realismus der privaten Investoren, die ganz offensichtlich von einer fortgesetzten Drittklassigkeit der Alemannia ausgehen. Die würde mit einem Abriß des Tivoli - zweifellos uneingestanden - auch der Club akzeptieren, denn das Gemäuer am Stadtrand fungiert in der Vereinspsyche als "Festung" und insofern als einzige objektive Markierung besserer Zeiten, vergangener und künftiger.

Hier erkämpfte Alemannia die Bundesligavizemeisterschaft 1968/69. Hier grätschte im schwarzgelben Trikot damals Horacio Troche aus Uruguay, der berühmt wurde, nachdem er Uwe Seeler bei der Weltmeisterschaft 1966 in England kräftig geohrfeigt hatte. Hier stürmte der Belgier Roger Claessen, der zwischen den Spielen ab und zu in seine Heimatstadt Lüttich zurückfuhr und bei einigen Gläschen die Nächte durchzockte.

Wäre der Club mit dem Abriß des Tivoli einverstanden, die Denkmalschützer wären in die Pflicht zu nehmen: Das Stadion sieht heute - abgesehen von der Überdachung der Gegentribüne und der so ordinären wie blättrigen schwarzgelben Bemalung - aus wie am 8. Februar 1968, als Borussia Mönchengladbach mit 2:1 besiegt wurde. Vip-Logen oder ähnlicher Modernismus sind hier unbekannt, die wenigen Sitzplätze bestehen aus groben Holzplanken und haben keine Rückenlehnen. Die Stimme des Stadionsprechers kommt noch ebenso krächzig-verzerrt aus den Lautsprechern wie am 27. Juli 1968, als die Aachener hier einvon Schiedsrichter Eschweiler geleitetes Freundschaftsspiel mit 3:2 gewannen. Der Gegner hieß Arsenal London. Arsenal London ist vor drei Wochen englischer Meister geworden. Das hier ist ein Hilferuf.